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Der Liebespakt

Titel: Der Liebespakt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Leinemann
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drückte, um den Fahrstuhl zu holen. Er war links und rechts von graviertem Efeu umrankt. Nichts konnte einfach nur schlicht und funktional sein.

    Der Fahrstuhl würde wieder ewig brauchen. Er war so alt wie das Haus und aus Holz. Man musste ein Metallgitter schließen, damit er losfuhr, und dann knarzte er grauenhaft. Kurz überlegte Toni, ob sie die Treppe nehmen sollte, aber der Weg bis zum Dachgeschoss war weit. Da half nur warten. Toni lehnte sich an die Wand. Sie war vollkommen erschöpft. Der nasse Mantel wog schwer in ihrem Arm. Gedankenverloren betrachtete sie das Gemälde auf der gegenüberliegenden Wand.

    Die Restaurateure hatten wochenlang daran gesessen, um es unter dem Verputz hervorzuholen und wieder in den Originalzustand zu versetzen. »Die Gartenlaube« stand in schnörkeliger Schrift über dem Bild. Und: »Illustriertes Familienblatt«. Dieser durchgeknallte Verleger hatte die »Gartenlaube« - auf dem Höhepunkt seines Erfolges - irgendwann dazugekauft. Diese Illustrierte war der Verkaufsschlager des 19. Jahrhunderts gewesen, weil sie perfekt in die Fassadenwelt der Gründerzeit gepasst hatte. Allein das Wandbild dort war ein einziges Idyll. Eine größere Familie saß im Garten um einen runden Tisch herum. Das Familienoberhaupt, ein greiser Herr mit Backenbart und Kneifer auf der Nase, las aus einer Zeitschrift vor, während alle ihm aufmerksam zuhörten. Eine Frau mit Häubchen auf dem Kopf wiegte ein Kleinkind auf dem Schoß. Ein jüngerer Mann
mit Vollbart saß zurückgelehnt rauchend hinter dem Alten. Ein junges Mädchen hatte verzückt die Hände gefaltet.
    Heile Welt. Heile Familien. Heile Ehen. Toni hatte irgendwann mal neugierig »Gartenlaube« gegoogelt, um zu erfahren, warum diese Zeitschrift in der Kaiserzeit so ungeheure Auflagen gehabt hatte. Die Antwort war überraschend gewesen: weil die Frauen das Blatt liebten. Sie waren die Käuferinnen, und zwar zu Hunderttausenden. Es ging ihnen allerdings weniger um die Berichte von neuesten technischen Entwicklungen (die Entdeckung der Röntgenstrahlen oder Otto Lilienthals Schwebeflug-Apparat), um irgendwelche kolonial-ethnologischen Betrachtungen (»Leben, Trachten und Sitten der chinesischen Frauen«) oder um Ausstellungskritiken. Nein, die Frauen waren süchtig nach den Liebesromanen. In langen Schlangen standen sie Monat für Monat an den Kiosken an, mit ihren großen Hüten, in langen, bauschigen Kleidern, an sonnigen Tagen mit Sonnenschirm, an regnerischen Tagen im Cape, um das nächste Kapitel des Fortsetzungsromans lesen zu können. Das Liebesroman-Fieber packte alle - die Dienstmädchen genauso wie ihre Herrinnen, den Backfisch wie die unverheiratete Gouvernante. Herzschmerz, Intrige, Eifersucht. Und am Ende immer das glückliche Ende: die Ehe.
    Wahrscheinlich hatte die Ehe zuletzt im 19. Jahrhundert funktioniert. Vielleicht war sie einfach nicht mehr zeitgemäß. Die Welt war zu schnell geworden, das Angebot zu üppig, die Hemmschwelle, sich einen neuen Partner zu nehmen, zu niedrig. Ja damals, da hatte es sie noch gegeben, die glückliche Ehefrau. Eine, die sicher war, dass die Liebe kein kurzweiliges Spiel war, keine Lebensabschnittsgemeinschaft mit äußerst beschränkter Haftung.
    Toni trat näher an das Bild heran. Es war ganz klar, wer in der Gartenrunde die Ehefrau war. Eine Hübsche mit dunklem
Haar, das unter einer weißen Haube mit Rüschen versteckt war. Sie trug ein helles Kleid und darüber einen schwarzen Überwurf, ein Tuch oder ein Cape. Sie sah nicht dumm aus, im Gegenteil. Sie blickte klug aus ihren klaren dunklen Augen, darüber wölbten sich energische Brauen. Auf ihrem Schoß saß das kleine Kind, mit dem sie spielte, während sie dem backenbärtigen Vorleser zuhörte.
    Es war lächerlich, sie wusste es, aber Toni konnte nicht anders, sie berührte den Saum des hellen Kleides auf dem Bild. Ein bisschen Sehnsucht lag in der Berührung, aber auch Mitleid, denn Toni wusste, sie war weiter. Die Frau auf dem Bild war eine Ehefrau. Nichts weiter als eine Ehefrau. Kein Beruf, kein eigenes Einkommen, keine Macht. Wie gut, dass es bei mir anders ist, dachte Toni. Auch wenn es mit Georg nicht mehr hinhaut, mein Leben ist mit einer Scheidung nicht zu Ende. Bei mir ist noch alles drin. Ich habe meinen Beruf, ich bin eine gute Innenarchitektin, vielleicht mache ich eines Tages tatsächlich mein eigenes Büro auf. Ich bin nicht abhängig von ihm.
    Da der Fahrstuhl sich weiterhin knarzend nach unten mühte und immer noch

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