Der Liebespakt
nicht angekommen war, trat Toni wieder einen Schritt zurück und suchte den dazugehörigen Ehemann auf dem Bild. Es musste der Rauchende sein, der hinter dem vorlesenden Alten saß. Er wirkte aufmerksam. Hörte er zu? Las er sogar mit? Ja, auf den ersten Blick sah es so aus, als lese er über der Schulter des Alten hinweg mit. Erstaunlich, ein Mann jener Zeit, der sich konzentriert einen Liebesroman anhört. Toni musste lächeln.
Doch plötzlich, elektrisiert, trat Toni einen weiteren Schritt zurück, um das Bild als Ganzes sehen zu können. Da stand ja noch eine Frau, etwas seitlich. Sie saß nicht wie die anderen Familienmitglieder, sie kam ganz klar von außen. Jung war sie und auffällig hübsch gekleidet, großer Hut mit einer langen
Feder daran, bauschiges Kleid mit Schürze, und in der Hand hielt sie eine Gießkanne. Eine Gärtnerin? Niemals, überlegte Toni, ihre ganze Körperhaltung machte deutlich, dass sie kein Dienstmädchen war. Dafür lehnte sie viel zu kokett am Tisch. Nein, diese Dame hatte sich nur als Gärtnerin verkleidet. Sie trug das neckische Kostüm der verführerischen Gärtnerin. Und der Ehemann der Haubenfrau, der schaute natürlich nicht auf das Buch, sondern am lesenden Alten vorbei auf die falsche Gärtnerin. Er bändelte an! Vielleicht hatte er sogar schon eine Affäre mit ihr. Alles vor den Augen der Frau, der er vor dem Altar das Jawort gegeben hatte. »Unglaublich«, murmelte Toni. Hundertmal war sie an dem Bild vorbeigegangen. Das Wichtigste darin, sein Geheimnis, hatte sie nie bemerkt. Dabei war es so offensichtlich. Man musste nur genau hinschauen.
Es war, als ob das Wandbild lebendig würde und nach hundert Jahren Achtlosigkeit und Staub erstmals wieder seine wahre Geschichte erzählte. Eine Geschichte, die nur Betrogene verstanden. Plötzlich hatte Toni von der Ehefrau mit dem spielenden Kind auf dem Knie einen ganz anderen Eindruck. Nein, sie war nicht glücklich. Sie lenkte sich bloß ab, um nicht hinsehen zu müssen, wie ihr Mann fremdging. Wenn der Alte zu Ende gelesen hat, dachte Toni, dann wird sie aufstehen und am Arm ihres Mannes nach Hause schreiten, als sei nichts passiert. Sie wird den Schein wahren. Sie wird der Welt vorgaukeln, eine glückliche Ehefrau zu sein, damit die Fassade stimmt. Alles geht nach außen wie gewohnt weiter - die kleinen literarischen Salons, die sonntäglichen Kirchgänge, die geselligen Abendeinladungen. Dieses Eheidyll, es war nur Schein.
»Wir sind in der gleichen Lage«, sagte Toni halblaut. Sie konnte es kaum fassen. Über einhundert Jahre lagen zwischen ihr und dieser Frau, einhundert Jahre, in denen sich die Welt völlig verändert hatte. Und doch teilte sie das Schicksal dieser Frau.
Der Fahrstuhl, der genauso alt war wie das Bild, kam endlich angerumpelt. Toni hatte einen bitteren Geschmack im Mund. Gleich würde sie in ihre extrem moderne Wohnung treten, mit der minimalistischen Einrichtung und dem großen Bild aus der Neuen Leipziger Schule, das Georg - der ewige Kaufmann - als »Superinvestition« ersteigert hatte. Äußerlich war alles auf der Höhe der Zeit. Aber sie spielte die Hauptrolle in einer Ehekomödie, die ins 19. Jahrhundert gehörte. Das konnte doch nicht wahr sein!
Der Fahrstuhl hielt mit einem schweren Ruck. Er federte noch ein wenig nach, als Toni das Metallgitter zurückschob. In ihrem Kopf schwirrten die Gedanken. Sie hatte eine Vereinbarung mit Georg getroffen, weil sie Zeit gewinnen wollte, um ihre Ehe zu retten. Aber Shirin hatte recht, sie hatte das Geld nicht ausgeschlagen, also hatte sie sich kaufen lassen. Warum? Toni wusste es selbst nicht so genau - dieser Deal mit Georg war wie ein letzter Halt, bevor alles zusammenbrach. Er wirkte, gerade wegen des Geldes - obwohl die Summe mit 25 000 Euro für einen zukünftigen Vorstandsvorsitzenden lächerlich klein war -, irgendwie solide. Solide? Ihre Ehe war genauso Fassade wie die kaputte Ehe dieses »Gartenlaube«-Paares an der Wand.
Ich spiele das Spiel mit, genauso wie die Haubenfrau hier in der Eingangshalle. Wie Millionen anderer betrogener Frauen vor mir, dachte Toni. Sie konnte es selbst nicht fassen. Früher, vor Georg, wäre für sie klar gewesen, dass sie spätestens jetzt gehen musste. Das verlangte der Stolz. Aber das konnte sie nicht. Doch stumm leidend weitermachen wie heute, sich wieder neben Karoline stellen und gute Miene zum bösen Spiel machen, anstatt ihr die Augen auszukratzen, das würde sie auch nicht mehr lange schaffen. Das bin nicht
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