Der Liebessalat
könnten Viktors neuen Helden, der boshafterweise Hartmut oder Gernot oder sonstwie germanisch heißen und unter seinem Namen leiden sollte, traumatisiert haben. Hartmut, der lieber Aaron oder Nathan heißen würde, kann nicht mit deutschen Frauen schlafen. Er erobert die schönsten, klügsten, nettesten, antifaschistischsten, philosemitischsten Frauen, liegt mit ihnen im Bett – es geht nichts. Er weiß nicht, warum. Er verzweifelt. Kein Psychiater kann ihm helfen. Auch Viagra versagt, weil keine Libido da ist. Jede der Frauen ist rührend bemüht, ihm zu helfen, sie bedecken den Ärmsten mit Küssen. Was sie nicht wissen, und was er nicht weiß: Es sind deutsche Küsse, innige deutsche aufrechte Mutterküsse, und die machen ihn völlig wahnsinnig. Innigkeit ja, aber nicht mit Deutschen. Schließlich lernt er eine Tscherkessin kennen. Undeutscher geht es nicht. Sie lebt in einer völlig chaotischen Wohnung in völlig ungeordneten Verhältnissen. Sie ist nicht fleißig, nicht gründlich, nicht lieb zu ihren Kindern, nicht ehrlich, nicht aufrecht, sie lügt ein bißchen, sie beißt lieber, als sie küßt, sie läßt sich gern unterwerfen und unterwirft gern – und mit dieser Frau endlich kann Hartmut, der jetzt nicht mehr lieber Nathan hieße, glücklich werden, denn sie sagt: »Hartmut? Ich mag Männer, die hart sind und Mut haben.« Und während er die Tscherkessin überwältigt und sich von ihr überwältigen läßt, wird ihm klar, daß es diese verdammten gutgemeinten Nazizeitbewältigungsfilme waren, die ihm derart aufs Gemüt schlugen, daß er schon als Student bei manchen Freundinnen versagte, einfach nur, weil ein Vertiko im möblierten Zimmer stand, wie es in den Zimmern der Nazis gestanden haben könnte. Eine Schallplattenhülle von Franz Liszts Prelude reichte aus, um ihn an die bombastische Melodie zu erinnern, mit der der nationalsozialistische Rundfunk seine Siegermeldungen ankündigte, und deutsche Mütter kamen aus deutschen Küchen in deutsche Wohnstuben und umringten ebenso besorgt wie siegestrunken den deutschen Volksempfänger – eine Vision, die in Viktor und in seinem soeben neu erfundenen Helden einen dumpfen Ekel weckte, der alles zum Erliegen brachte. Eine Ungerechtigkeit ohnegleichen, denn die entzückende und in Viktor oder Hartmut verliebte Studentin hatte nicht die geringste Schuld an dieser Heimsuchung, haßte Franz Liszt und die deutschen Wohnküchen vielleicht mit derselben Inbrunst wie Viktor oder Hartmut, nur ließ sie sich dadurch vernünftigerweise nicht aus dem erotischen Gleichgewicht bringen. Adrian hatte vermutlich nicht ganz unrecht gehabt mit seinem extemporierten Verdacht, daß lila Lederhosen oder lorbeerblattgrüne Motorradoveralls Hilfsmittel gegen das deutsche Wesen waren, an dem Viktor und Hartmut durch eine cineastische Prägung in der Jugend mit einem hysterischen Erstickungsgefühl reagierten. Sabine, eine nette, verständnisvolle, angenehm kumpelhafte, ziemlich draufgängerische Geliebte, hatte ohne ihre lila Lederhose irgend etwas von einer aufgeräumten deutschen Mutter an sich, und das war es gewesen, was Viktor hatte unaktiv bleiben lassen.
Wenn er sich jetzt ins Bett legen würde, wäre ihm das Thema nach einem kurzen Schlaf entglitten und gleichgültig. Er würde sich gern auf der Stelle mit der Tscherkessin darüber unterhalten. Unterhaltungen waren bequem. Man kam der Liebe zwar nie auf den Grund, aber doch ein bißchen auf die Schliche. An das Gesprochene erinnerte man eher als an das Gedachte. Die anstrengendere, aber auch ergiebigere Methode, eine Idee voranzutreiben, war das Schreiben von Briefen.
Wenn Sabine nicht gekommen wäre, hätte Viktor der Tscherkessin sofort geschrieben, nachdem er ins Hotel zurückgekommen war. Danach war ihm zumute gewesen. Er hätte über das Glück geschrieben, ihr begegnet zu sein. Über seine begeisterten Gedanken auf dem Weg von ihrer Wohnung zum Hotel. Wie selbst das scheußliche Hannover bei der Erinnerung an ihre Nähe erträglich geworden sei. Es wäre ein ziemlich romantischer Brief geworden, obwohl sie ihm gesagt hatte, sie möge keine Romantiker. Vielleicht waren ihr Romantiker zu deutsch? Vielleicht stießen die Romantiker sie so ab, wie ihn gewisse Formen der Säuberlichkeit und der Aufgeräumtheit und der Andächtigkeit und der Fürsorglichkeit und der Folgsamkeit und der Schicksalsergebenheit? Er hätte sie vielleicht verschreckt mit seinem Gesäusel. Schon war er Sabine unendlich dankbar für ihr Kommen,
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