Der Liebessalat
bis der deutsche Weckruf den deutschen Viktor wieder auf die Beine bringen würde. Schlafen konnte er im Zug. Heute ging es nach Dresden. Lesung abends um halb neun. Viktor hätte ausschlafen und einen Zug am frühen Nachmittag nehmen können. Aber er wollte über Berlin fahren, in Berlin mindestens drei Stunden mit dem Bus und der S-Bahn herumfahren und herumspazieren und sich dreckige Gedanken über den Berlinkult machen. Spätestens am Nachmittag um drei wollte er in Dresden sein, das er nur flüchtig kannte und von dem er sich einen Eindruck verschaffen wollte. Schlafen würde er im Zug können. Nach dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit war nicht zu erwarten, daß ihm wieder eine Nasenringschönheit begegnete, und es würde auch keine Tscherkessin in diesem seltsamen neuen Osten von Deutschland geben, denn die Nähe fremdenfeindlicher sächsischer Nacktschädelschweine wäre für eine Tscherkessin unzumutbar. Es war in Dresden auch garantiert keine Sabine zu erwarten – obwohl es in Erfurt, fiel ihm plötzlich ein, eine Christiane gab, mit der er, wenn ihn nicht alles täuschte, auch eine Nacht auf dem Bett gelegen hatte. Christiane hatte nichts Deutschmütterliches, er begehrte sie sehr, aber sie konnte sich die ganze Nacht nicht entscheiden, ob sie ihren Mann mit einem Dichter betrügen durfte oder nicht. Entzükkend. Was, wenn Christiane kam und sagte: »Diesmal bin ich bereit!?« Wie weit war Erfurt von Dresden? Er schuldete ihr einen Dankesbrief. Sie hatte ihm wenig später eine alte Zigaretten-Blechschachtel geschickt: »Viktors Heldenzigarette«. Wie konnte man sich für so eine entzückende Gabe nicht bedanken? Dafür haßte er sich. Das Leben war manchmal zu voll und zu schnell.
»Christiane schreiben«, schrieb er in seinen Terminkalender, jetzt doch langsam müde geworden. In dem Zustand schlief er manchmal beim Schreiben ein. Dann fiel ihm im Sitzen der Kopf herunter. Wenn er Pech hatte, tat nach einem solchen Nickerchen der Nacken eine Weile weh. Ella hatte das nicht ertragen können: »Du ruinierst deine Gesundheit! Du bringst dich um! Auch du mußt einmal schlafen!« Ihre gut gemeinten, aber hysterischen Schreie waren einer der vielen Scheidungsgründe gewesen. Er konnte ihre Sorge nicht mehr ertragen. Und Ella konnte seinen ungeregelten Arbeitsrhythmus nicht mehr ertragen. Ira war es völlig einerlei gewesen, was er mit seiner Gesundheit anstellte. Sehr angenehm. Ellen hatte ihn einmal beim Schlaf am Schreibtisch fotografiert und das Bild eines Tages als riesiges Poster aufgehängt: Er sah aus wie achtzig und nach dem dritten Schlaganfall. Der Mund debil geöffnet. Nur eine starke Ehefrau konnte diesem Jammerbild standhalten. Jede Geliebte würde ihren so gräßlich schlafenden Liebhaber verlassen, noch ehe er wach wäre.
Viktor war sicher: Lieber hätte Ellen ihn beim klassischen Inflagranti ertappt als in einer derart senilen Haltung. Sie empfahl krankengymnastische Behandlung, wenn sie ihn so sah. Natürlich lehnte er ab: »Ich bin doch nicht krank!«–»Aber bald krumm«, sagte Ellen. Dann behauptete sie, er tue nicht nur nichts für seinen Körper, sondern auch nichts für den Geist. Das war frech, fand Viktor, aber das Stilgefühl verbot ihm, sie zu fragen, ob die Schriftstellerei keine geistige Arbeit sei. Er konnte das nicht fragen, weil das Wort »geistige Arbeit« einfach zu lächerlich war. Die Zunge sollte ihm abfallen, wenn das je über seine Lippen käme. Auch war klar, was Ellen meinte: Grips trainieren, bißchen was Brauchbares in die Birne stecken, eine Sprache zum Beispiel. Das hätte ihm tatsächlich nicht geschadet. Sie selbst lernte Italienisch und wäre gern mit Viktor in den Konversationskurs gegangen. Sie lockte ihn mit der Lehrerin. Ein ganz zauberhaftes Wesen. Penelope hieß sie. Der Namen hatte es wirklich in sich. Was für schöne vier Silben. Viktor hatte es nicht mit der Antike, und Penelope war zudem die Verkörperung einer Tugend, die für ihn keine große Bedeutung hatte, nämlich die der ehelichen Treue. Zwanzig Jahre hatte sie auf den irrenden Odysseus gewartet. Die Treue wäre nicht nötig gewesen, doch das Warten fand Viktor stark. Er wartete auch immer. Auf bessere Zeiten. Auf das ganz große Glück. Die Rückkehr des Odysseus malte er sich gern aus. Mußten ja nicht gleich zwanzig Jahre sein. Aber von einer Frau namens Penelope aufgenommen zu werden, das war in jedem Fall ein erhebendes Finale: den von langen Reisen müden Kopf in ihren Schoß legen, und
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