Der Liebessalat
Penelopen fährt dem geschundenen Heimkehrer durchs Haar, der schläft ermattet ein – doch schon morgen wird er ausgeruht erwachen, und es wird beginnen ein schönes neues Leben der Leidenschaft.
Die Italienischlehrerin Penelope Wagner stammte aus dem Tessin. Mehr wußte Viktor nicht von ihr. Und daß sie sechsundzwanzig Jahre alt war und beneidenswert lange Wimpern hatte. Was sie neben ihrem Namen für Viktor zu einem verwunschenen und begehrenswerten Wesen machte war die Art, wie Ellen ihn mit dem Hinweis auf ihre Zauberhaftigkeit in den Kurs locken wollte. Denn mit ganz ähnlichen Worten und dem arglosen Hinweis auf eine »tolle Frau«, die Viktor gefallen würde, hatte ihm vor Jahren Erstexehefrau Ella einen Ertüchtigungskurs schmackhaft zu machen versucht, an dem teilzunehmen er zu träge war. Nach einigem Widerstand hatte er sich überreden lassen und war Ella zuliebe in diesen Kurs gegangen. Sofort hatte er sich Hals über Kopf in die »tolle Frau«, mit der Ella ihn gelockt hatte, verliebt. Noch nie hatte ihn die Liebe so gebeutelt. Sie hieß Ira und wurde nach langen Kämpfen seine zweite Ehefrau. Viktor war ein durch und durch rationalistischer Mensch, ohne Neigung zum Aberglauben und ohne Bezug zu mythischen Fügungen. Wenn aber Ellen von der jungen und außergewöhnlich hübschen Penelope schwärmte und mit ihr lockte, kam unweigerlich die Erinnerung an Ellas Schwärmerei von der jungen Ira in ihm hoch – und schon spürte er wieder seine damalige brennende Ira-Leidenschaft, und es braute sich in seiner Phantasie das Bild einer neuen jungen Ira namens Penelope zusammen, die wie die antike Penelope nichts anderes tat als auf ihn, den Helden, zu warten, und wie aus verschiedenen antiken Statuen formte sich in Viktors verliebtem Kopf ein idealer, reizender Frauenkörper zusammen, der durchaus nicht aus Stein war.
Viktors deutschfeindlicher Sexualrassismus war sein eines dunkel schwelendes Geheimnis, das er vielleicht in seinem nächsten Roman einer Figur übertragen und somit erstmals untersuchen würde. Das andere, fröhlich zwinkernde Geheimnis waren seine Penelope-Phantasien. Keiner wußte von dieser einseitigen und phantomhaften Liebe zu einer Frau, von der er nur den Namen kannte. Nicht nur Ellen, auch Ira und die Tscherkessin würden ihn für verrückt erklären, wenn sie wüßten, in welchem Maße er, ein doch erwachsener Mann, sich zu einer Frau hingezogen fühlte, die er noch nie gesehen hatte und die er nie sehen wollte, aus Angst, sich unsterblich in sie zu verlieben – oder die Liebe zu ihr zu verlieren! Hysterischer Romantizismus vielleicht, aber egal: Penelope, die Viktor, da er sie nicht kannte, mehr fühlte, als vor sich sah, war keine ihm jederzeit zur Verfügung stehende Gefährtin, sondern eine, die zuverlässig und trostspendend vor allem dann auftauchte und seine Phantasie ausfüllte, wenn er erschöpft war wie ein homerischer Krieger. Die Visionen von Penelope endeten immer erlösend. In der rührendsten Variante hatte Viktor wie Odysseus dann doch zwanzig Jahre warten müssen, bis er sie sah. Viktor zweiundsechzig, und Penelope knusprige sechsundvierzig. Viktor zerknirscht: »Ich will sterben, ich bin zu alt für dich«. Darauf sie: »Dann will ich mit dir sterben.« Dieses bewegende Angebot macht aus dem müden alten Viktor noch einmal einen kräftigen Liebhaber, und alles ist wieder gut. Das antike Pathos der imaginierten Penelope-Szenen war jedes Mal so überwältigend, daß für einen Routinier wie Viktor nur wenige masturbatorische Griffe nötig waren, um sich von der Lust zu befreien.
Halb sieben war es im Hotel Interconti in Hannover, als Viktor nach dieser zärtlichen Begegnung mit Penelope, am Ende eines langen Tages und einer langen Nacht, zur Ruhe kam, ein bißchen verlegen, daß ein erwachsener Mann, der an tatsächlicher erotischer Resonanz keinen Mangel litt, wieder einmal wie ein Schüler Zuflucht in einer Phantasie gesucht hatte. Immerhin, Penelope existierte wirklich, es war kein reiner Wahn. Ellen, Ira, Ella, Susanne, Sabine und Beate, Bettina und die Tscherkessin – und selbst Christiane aus Erfurt existierten. Barbara und Thomas, Hanna und Carlos und Adrian – auch das waren wirkliche, wohlgesonnene menschliche Wesen.
Um sieben holte ihn das Telefon aus dem kurzen Schlaf. »Guten Morgen, Ihr Weckruf!« Es roch noch nach Sperma. Um fünf nach sieben meldete sich Sabine: »Guten Morgen. Autorenkontrollanruf!«
Zu seinem Verdruß war Viktor beim
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