Der Liebestempel
Ihnen verraten. Eine Frau, die
so alt ist wie meine Mommy und so was Zickiges tut! Trotzdem,
ich glaube, sie kann gar nichts anderes tun, weil sie so nutzlos ist.
Wahrscheinlich ist mein Daddy deshalb so wütend auf sie geworden, nachdem er
das Herumgeschmuse satt hatte. Er fand sie so nutzlos, daß er sie manchmal
geschlagen hat. Und dann, wenn er es satt hatte, sie zu schlagen, ging er
wieder weg. Aber trotzdem muß er nutzlose Mädchen gemocht haben, denn ich sah
ihn mal mit einem anderen dumm aussehenden Mädchen — einem rothaarigen.«
»Wo war denn das?« fragte ich
beiläufig.
»Am Seeufer, ein paar Kilometer
von hier entfernt. Das war an einem Nachmittag, lange bevor er uns verlassen
hat. Ich habe Indianeranschleichen im Schilf gespielt und bin auf dem Bauch
gekrochen wie ein Indianer, und dann sah ich sie plötzlich. Daddys Wagen war
hinten auf der Straße geparkt, und die beiden saßen am Ufer. Er hatte den Arm
um ihre Schulter gelegt und küßte sie.« Sie rümpfte erneut die kleine
Stupsnase. »Da wurde mir zum erstenmal klar, daß
Männer auch blöde sein können! Er sagte immer wieder solch einen albernen Namen
zu ihr — >Sherry, DarlingGesicht mehr wie sauer gewordene Milch und gar nicht wie Sherry aus!«
»Haben die beiden sonst noch
was gesagt?«
Ihr Gesicht bekam wieder einmal
einen allwissenden Ausdruck. »Sie suchen nach Spuren, ja? Ich frage mich, ob
das alberne rothaarige Mädchen vielleicht meinen Daddy umgebracht hat. Mir kam
sie dazu eigentlich nicht stark genug vor. Ihre Beine waren zu dünn. Ich
dachte, sie hätte vielleicht die Tub — Tuber ... Ich
meine das Ding, was man in die Lungen kriegt und dann stirbt. Wenn es so war,
dann hätte das vielleicht erklärt, warum mein Daddy so mit ihr rumgeschmust
hat. Verstehen Sie? Vielleicht war er nur nett zu ihr, weil er wußte, daß sie
sterben würde. Nein, sie haben weiter nichts Wichtiges gesagt.« Sie schloß die
Augen und konzentrierte sich ein paar Sekunden lang heftig. »Als sie mit dem
Geschmuse aufhörten, fingen sie an, dumme Späße zu machen und wie verrückt zu
lachen. Ich fand die Späße überhaupt nicht komisch. Mein Daddy fragte das
Mädchen, ob sie ein Licht hätte, das sie führe; und dann lachten sie alle beide
wie blöde. Dann sagte er, Kendall hätte ein ganz helles Licht, solange er nur
geführt würde, und dann lachten beide so, daß ich dachte, die Köpfe fielen
ihnen herunter.«
»Sonst noch was?«
»Nein, danach fingen sie wieder
an zu schmusen und deshalb bin ich wieder durch das Schilf weggeschlichen, um
nach Indianern Ausschau zu halten.«
»Hast du das deiner Mutter
erzählt?«
»So dumm bin ich nicht«, sagte
sie verächtlich. »Sie hätte bloß wieder angefangen zu weinen. Das ist alles,
was sie tut, wenn was schiefgeht — sie sitzt einfach da und heult wie ein Schloßhund . Wenn ich mal erwachsen bin und gerade nicht
rennfahre, dann werde ich einen Stock mit einem silbernen Knauf tragen. Und
wenn mir jemand was antun will, dann haue ich den«, sie fuhr sich mit einer
dramatischen Geste mit dem Zeigefinger quer über den Hals, »genau hierhin! Wahrscheinlich
ist es dann natürlich ein Krüppel für sein ganzes Leben, aber das ist seine
eigene Schuld.«
»Warum ist Onkel Paul ein
Widerling?«
»Weil er eben einer ist«,
erwiderte sie prompt. »Dazu braucht es gar keinen Grund zu geben. Wissen Sie
das nicht? Er ist eben ein Widerling.«
»Na, ich glaube, ich muß jetzt
gehen, Samantha«, sagte ich. »Es war nett, sich mit dir zu unterhalten.«
»Sie vergessen die Fahrt nicht,
die Sie versprochen haben?«
»Bestimmt nicht«, versprach
ich.
Sie biß sich hart auf ihren Daumennagel,
und der Ausdruck von Allwissenheit und Selbstvertrauen verschwand plötzlich von
ihrem Gesicht. »Das Zeug, daß die Leute ein Licht haben, das sie führt — das
stimmt doch nicht wirklich, oder?«
»Ich glaube nicht«, sagte ich.
»Es ist wohl mehr eine Art Idee, und die Leute glauben daran, oder sie glauben
nicht daran.«
»Glauben Sie nicht daran?«
fragte sie schnell.
»Nein«, sagte ich.
»Da bin ich froh! Meine Mommy glaubt daran; und Onkel Paul sagt auch, er glaubt
daran, aber wahrscheinlich will er sich bloß bei ihr einschmeicheln, damit sie
mit ihm schmust. Daddy oder diese widerliche Sherry haben sicher nicht daran
geglaubt, sonst hätten sie nicht die ganze Zeit darüber gelacht. Und wenn meine Mommy an ein Licht glaubt, das sie führt, warum hat sie dann den
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