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Der Liebeswunsch

Der Liebeswunsch

Titel: Der Liebeswunsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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weil sie wußte, daß ich heute komme. Sie wollte mir etwas beweisen. Wollte mir auf
     alles, was gewesen ist, eine nicht mehr korrigierbare Antwort geben. Ich empfand es als eine solche Aggression, daß ich einen
     Augenblick erstarrte. Dann dachte ich: Meine Antwort wird sein, daß ich mich jetzt abwende. Ich will sie nicht sehen. Und
     so drehte ich mich um und ging zurück. Erst als ich bei meinem Auto war, rief ich mit meinem Handy die Feuerwehr herbei.
    Sie kam schneller, als ich erwartet hatte. Und der Notarzt war auch dabei.
    Ich paßte sie an der Einfahrt ab, um sie in den Hof einzuwinken, und während wir in den zweiten Stock stiegen, erläuterte
     ich dem Notarzt kurz die Vorgeschichte und meine Befürchtung, es könne sich um einen Selbstmord handeln. Er nickte und gab
     mir damit zu verstehen, daß er gewohnt sei, mit allem zu rechnen. Hinter uns gingen der Fahrer und der Beifahrer des Krankenwagens,
     und ich hörte, wie sie sich über den Zustand des Hauses austauschten. Einer von ihnen, ich glaube der Beifahrer, sagte: »Das
     Verfallsdatum ist abgelaufen.« Außer der Trage hatten sie Werkzeug dabei, um die Tür zu öffnen. Es ging schnell, da es sich
     um ein einfaches Schloß handelte. Nur die innen vorgelegte Kette machte einen Augenblick Schwierigkeiten. Dann traten wir
     in einen großen dämmerigen Raum, in dem wie zufällig einige Möbel und einige unausgepackte Kisten herumstanden. Das Bett stand
     ungefähr in der Mitte unter einer von der Zimmerdecke herunterhängenden Glühbirne. Gleich von der Tür aus sah ich Anjas Haarschopf
     und den reglosen Umriß ihres Körpers unter der grauen Wolldecke. Rings um das Bett lagen umgekippte leere Weinflaschen. Der
     Notarzt stieß sie mit dem Fuß beiseite, als er an das Bett trat und Anjas Arm suchte, um den Puls zu tasten. Er fand ihn nicht
     gleich und suchte den Puls am Hals, drehte dann ihren Kopf und leuchtete ihr in die Augen. Die Pupillen waren weit geöffnet,
     aber sie zeigten noch einen schwachen Reflex, wie er mir sagte. Sie war bewußtlos. Ihre Gesichtshaut war wächsern und totenbleich,
     und sie atmete flach durch den weit geöffneten Mund. Ein starker Uringeruch stieg aus ihrem Bett auf. Sie schien in ihrer
     Bewußtlosigkeit das ganze Bettzeug und die Matratze durchseicht zu haben. Der Arzt spritzte ihr ein Kreislauf stützendes Mittel, und bevor die Feuerwehrleute
     sie auf die Trage hoben, zeigte er mir mehrere Schnittwunden im Muskelfleisch ihres linken Unterarms. Das war ein bekanntes
     Zeichen für den Versuch, ein zunehmendes Gefühl von Unwirklichkeit zu durchbrechen, indem man sich einen Schmerz zufügte.
    Dann packten die beiden Männer Anjas erschlafften Körper und legten ihn auf die Trage. Der Notarzt nannte mir das Krankenhaus,
     in das sie Anja bringen wollten. Ich sagte, ich würde nachkommen, aber noch einige Sachen zusammensuchen, die sie brauchte
     und die hier nicht zurückbleiben durften: Ausweis, Geld, Versicherungskarte, Kreditkarte, falls sie eine hatte, und frische
     Wäsche. Morgen wollte ich eine Reinigungsfirma beauftragen, den Raum in Ordnung zu bringen.
    Im Krankenhaus sagte man mir, daß Anja, wenn sie entgiftet sei, zum Entzug in eine Spezialklinik überwiesen werden müsse.
     Auch darum wollte ich mich kümmern. Ich ging dann noch in das Zimmer, wo sie wie aufgebahrt im Bett lag und eine Infusion
     bekam. Sie hatte wieder etwas mehr Farbe im Gesicht. Als ich eintrat, öffnete sie kurz die Augen. Ich fing einen leeren Blick
     auf, der aus tiefer Abwesenheit zu kommen schien, bevor sich ihre Lider wieder schlossen. Ich glaubte nicht, daß sie mich
     erkannt hatte. Schon als ich zum Aufzug ging und kurz danach das Krankenhaus verließ und in mein Auto stieg, änderte sich
     mein Eindruck. Anja, meine Widersacherin und Freundin, hatte sich von mir abgewandt.

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    17
Zerfallszeit
    Zeit ist vergangen oder nicht. Sie hat nichts gespürt. Also gab es keine Zeit. Nur das Dunkel und diese wattige Stille. Dahinter,
     irgendwo das Schreien. Zittern, Schwitzen, Schreien. Bin ich das? Bin ich überhaupt noch in mir selbst?
    Wieder kommen sie mit der Spritze. Der Körper, in den die Nadel eindringt, ist mein Körper. Ich spüre den Stich. Beruhigt
     jetzt. Versinkend. Weggleiten in das Dunkel. Eins werden mit der Dunkelheit.
    Etwas nimmt Gestalt an. Grau im Schwarzen. Hellgrau im Grau. Ich sträube mich. Doch ich werde von einer fremden Kraft über
     den Rand des Dunkels hinausgehoben in die Helligkeit des

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