Der Liebeswunsch
versucht«, sagte sie. »Aber ich schrecke anscheinend die Leute ab.«
Darauf wußte ich nichts zu antworten, denn ich konnte es verstehen. Und vielleicht verstand sie es sogar selber, ohne daß
sie es ändern konnte oder ändern wollte. Wenn es sich so verhielt, war sie wahrscheinlich verloren.
Sie wohnte in einem alten leerstehenden Gewerbebau, der schon seit langem abgerissen werden sollte, weil es keine Verwendung
mehr für ihn gab. Sie hatte einen einzigen Raum im zweiten Stock am Ende des Korridors. Unter ihr im ersten Stock wohnte eine
Ausländerfamilie. Sie wollte nicht, daß ich mit raufkam. Und ich dachte, daß ich das respektieren müsse, kündigte aber für
den nächsten Vormittag meinen Besuch an. Sie sagte mir, daß es keinen Hausmeister gebe und das Gebäude Tag und Nacht offenstehe.
Ich könne jederzeit hereinkommen. Ihr Name stünde an der Tür. Damit stieg sie aus.
Ich wendete und fuhr nach Hause, aß etwas, da ich vom Buffet nichts abbekommen hatte, und legte mich ins Bett. Nachmittags
machte ich einen kleinen Spaziergang. Danach blätterte ich einen Stapel medizinischer Zeitschriften durch und las zwei Aufsätze,
die ich mir schon angestrichen hatte, und gegen Abend zog ich mich um und fuhr ins Excelsior zu dem Abendessen, das Leonhard
für ihm nahestehende Kollegen und alte Freunde gab. Den ganzen Abend war ich gutgelaunt und wunderte mich manchmal über mich
selbst, wenn ich mich ungehemmt lachen hörte. Anja hatte ich in den Hintergrund meines Bewußtseins geschoben. Sie hatte mich schon den ganzen Vormittag genervt, und ich wollte mir nicht auch noch den Abend verderben lassen. Das
sagte ich auch Leonhard, neben dem ich saß, als die einzige Frau in der Runde. Man betrachtete mich anscheinend als die Gastgeberin
und fast so, als sei ich Leonhards Frau. Entsprechend wurde ich hofiert. Es machte mir Spaß, und ich gab dem Ganzen einen
ausgelassenen, spielerischen Zug. Leonhard schien das nicht unrecht zu sein. Er wollte wohl den Eindruck verwischen, den Anjas
unerwarteter Auftritt im Festsaal hinterlassen hatte.
Am nächsten Vormittag fuhr ich nach Zollstock, um Anja zu besuchen. Wenn ich es nicht gewußt hätte, daß Sonntag war, hätte
ich es an der Leere der Straßen gemerkt. Die Häuserfronten, viele banale Fünziger-Jahre-Bauten darunter, machten einen kulissenhaften
Eindruck, und ich wunderte mich fast, als mir eine Straßenbahn entgegenkam. Ich war nicht besonders motiviert zu diesem Besuch.
Denn was konnte ich schon tun? Ihr ins Gewissen reden? Ihr Mut machen? Das würde nicht viel nützen. Also mußte ich mich darum
kümmern, daß sie eine bessere Wohnung bekam. Ich fand das sehr lästig, weil ich nicht daran glauben konnte, daß dann ihre
Probleme gelöst seien.
Das Haus, bei dem ich Anja gestern abgesetzt hatte, erreichte man durch eine Einfahrt in einer geschlossenen Häuserfront.
Es war wohl zum Abbruch vorgesehen, denn es grenzte als ein Relikt einer älteren Bebauung an eine schon freigeräumte Fläche,
in der nur einige Reste von altem Mauerwerk zu sehen waren. Neben der Haustür hing noch ein altes Firmenschild »Kappler &
Söhnke. Offsetdruck, Schnelldruck. Lager und Versandservice«. Die Firma schien ausgezogen zu sein, möglicherweise bis auf einige Lagerräume im Erdgeschoß, wo es eine vergammelte, unbesetzte Portiersloge gab,
an deren Rückwand ein alter Kalender hing.
Ich stieg eine Steintreppe hoch, hörte Kinderstimmen im ersten Stock, stieg weiter in den zweiten Stock und ging den langen,
ziemlich breiten Korridor entlang, an dessen rechter Seite hohe, verdreckte, fast blinde Fenster waren. Links befanden sich
große saalartige Räume, in die ich zum Teil hineinsehen konnte, weil die Türen aufstanden oder fehlten. Auf der letzten Tür
sah ich das angeheftete Pappschild mit den Blockbuchstaben ihres Namens: A. VEITH. Es befremdete mich, daß sie nicht Anja
Veith geschrieben hatte. Wahrscheinlich wollte sie nicht verraten, daß hinter der Tür eine Frau wohnte.
Ich klopfte und wartete. Nichts rührte sich. Ich klopfte lauter, begann ihren Namen zu rufen. Rief meinen Namen. Klopfte ununterbrochen.
Es kam keine Antwort.
Entweder ist sie tot, dachte ich. Oder sie ist dabei zu sterben. Oder sie ist weggelaufen. Und in einem unwillkürlichen Zynismus,
den ich mir sofort verbot, dachte ich: Aber das wäre ja keine Lösung.
Ich klopfte noch einmal. Rief noch einmal.
Dann dachte ich: Sie hat sich umgebracht,
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