Der Liebeswunsch
Leonhards Ehrentag
durch einen Skandal verdarb. Aber ich wußte nicht, wie, und machte mir Vorwürfe, daß ich nicht bei ihr geblieben war. Allerdings
hatte ich sie durch meine Fragen und Belehrungen nur gereizt.
Vergeblich versuchte ich mich auf die Musik zu konzentrieren. Es war der erste Satz eines Streichquartetts von Beethoven,
ein Allegretto, das wohl dazu dienen sollte, die versammelte, in Würde erstarrte Gesellschaft innerlich zu beleben. Ich fühlte
mich aber unangenehm gestört durch die Arm- und Schulterbewegungen, das Wiegen der Oberkörper, das Kopfnicken und das breitbeinige
Dasitzen der Musiker. Sie waren wahrscheinlich gut, doch sie gaben der Musik einen gebieterischen Nachdruck, der uns alle
zu gehorsamem Zuhören zwang. Ich höre Musik lieber alleine in meiner Wohnung, wo ich mich nicht von ihr gefesselt fühle und sie nicht als eine Darbietung von Schwerarbeit würdigen muß. Auf
einmal kam mir die Disziplin des Festaktes absurd vor: Zur Reglosigkeit gezwungen, saßen wir in ausgerichteten Stuhlreihen,
während alle Bewegung auf der Bühne stattfand, wo vier Menschen in gebändigter Heftigkeit ihre Instrumente bearbeiteten. Ich
schloß die Augen, um den lästigen Eindruck loszuwerden, ohne daß ich die Musik jetzt besser hörte. Streichquartette hatte
ich nie besonders gemocht. Sie hatten für mein Gefühl alle etwas eng Familiäres, weil die Instrumente sich so ähnlich waren.
Das hatte ich bei früheren Gelegenheiten immer wie selbstverständlich hingenommen, wie es vermutlich die meisten Leute im
Saal taten. Jetzt sträubte sich etwas in mir. Und ich glaubte, daß es Anja ähnlich ging. Vielleicht war es ihre Anwesenheit,
die mich empfindlich gegen die Routine der Festveranstaltung machte. Möglicherweise aber war sie schon gegangen.
Die Reden begannen. Wenn Anja geblieben war, würde sie danach lechzen, etwas zu trinken, während die Redner nacheinander quer
über die Bühne zum Rednerpult schritten und sie wieder verließen, nachdem sie gesagt hatten, was man von ihnen erwartete.
Zuletzt kam Leonhard, begrüßt vom freundlichen Beifall des Saals. Und ich fragte mich, ob er sehen konnte, daß Anja in einer
der letzten Reihen saß. Aber er hatte, wie er da stand und in den Saal blickte, eine unangefochtene, gesättigte Ruhe. Und
so sprach er dann auch – schon mit der Ausstrahlung der Autorität seines neuen Amtes.
Später, als die Abschlußmusik verklungen war und im Parksalon das Buffet eröffnet wurde, war er umringt von Gratulanten. Ich mußte mich mühsam zu ihm durchdrängen. Doch als er mich sah, zog er mich herbei und hielt mich in seiner Nähe,
so daß manche Gratulanten, die ihn nicht näher kannten, mich offenbar für seine Frau hielten. Zwei- oder dreimal korrigierte
er das gutgelaunt, indem er sagte, ich sei etwas viel Besseres, nämlich eine alte Freundin. Es dauerte ziemlich lange, bis
wir einen Moment allein waren und ein paar private Worte wechseln konnten. Ich sagte ihm, daß Anja gekommen sei. Vielleicht
sei sie inzwischen wieder gegangen, aber ich nähme eher an, sie sei noch da und werde versuchen, mit ihm zu sprechen. »Sie
sah sehr auffällig aus und fing gleich an zu trinken. Es wäre dir sicher nicht besonders angenehm, wenn man dich zusammen
mit ihr fotografierte.«
»Was wollte sie denn?« fragte er.
»Sich beklagen, glaube ich. Weil sie sich an den Rand geschoben fühlt. Es war aber nicht ganz klar. Und sie wirkte auch nicht
gerade berechenbar.«
Leonhard schwieg einen Augenblick. Er sah nachdenklich aus. Dann sagte er: »Falls sie noch da ist, sag ihr bitte, daß ich
mich in den nächsten Tagen bei ihr melde.«
»Ich will's gerne versuchen«, antwortete ich.
Wieder traten neue Leute an Leonhard heran, und ich machte mich auf die Suche nach Anja. Mir hatte er noch nachgerufen: »Wir
sehen uns doch beim Abendessen!«
Es handelte sich um ein Abendessen im engeren Kreis, bei dem er mich gerne dabeihaben wollte.
Am Buffet im Parksalon schob sich noch eine lange Schlange vorbei, in der ich Anja nicht bemerkte. Ich fand sie gleich danach
auf der Terrasse. Sie trank. Und sie sprach mit zwei Männern mittleren Alters, die ein noch unentschiedenes Interesse an ihr hatten. Und als ich an den Tisch trat, hörte ich, wie sie sagte: »Das ist alles beschissene Theorie.«
Sie sagte es laut, wie Leute sprechen, die sich nicht mehr unter Kontrolle haben. Dann sah sie mich und sagte: »Alles beschissene
Theorie,
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