Der Liebeswunsch
Treppengeländer.
»Will was trinken«, sagte er leise.
Die ängstliche Scheu, mit der er da stand, rührte ihn, obwohl sie ihm nicht gefiel. Das Kind sah Anja ähnlich. Und wahrscheinlich
empfand sie Daniel auch als einen Teil ihrer selbst. Er war ihr zu nah, als daß sie ihn erziehen konnte. Oder war das eine
zu freundliche Interpretation ihrer Nachlässigkeit?
»Wo ist Mama? Schläft sie noch?«
»Weiß nicht«, sagte Daniel, ohne einen Schritt weiterzugehen.
»Gut, hol dir die Milch. Sie steht im Kühlschrank.«
Daniel zögerte. Er war dreieinhalb Jahre alt und daran gewöhnt, bedient zu werden.
»Du weißt doch sicher, wo der Kühlschrank ist?«
Daniel rührte sich nicht und schien sich in sich zu verkriechen. Vielleicht war es wirklich unangemessen, von dem Kind zu
verlangen, daß es eine Milchflasche aus dem Kühlschrank nahm und herbrachte.
»Setz dich jetzt zu mir an den Tisch«, sagte er. »Wir machen heute eine Ausnahme, weil die Mama noch schläft. Zum Frühstück
muß man eigentlich angezogen sein. Ich bin ja auch nicht im Schlafanzug, nicht wahr?«
Daniel stand wie angewurzelt da, ohne zu erkennen zu geben, ob er ihn verstanden hatte. Vielleicht machte er etwas falsch.
Doch vermutlich war es bei diesem Kind nicht möglich, alles richtig zu machen. Kleine Kinder lagen ihm nicht. Er brauchte
einen Jungen, mit dem er reden konnte.
»Nun komm her«, sagte er, und Daniel kam mit rutschender Hose die beiden letzten Stufen herunter und näherte sich mit kleinen
Schritten dem Tisch.
In diesem Augenblick klingelte es an der Haustür. Und mit einem Gefühl der Erleichterung fiel ihm ein, daß Frau Schütte heute
außerplanmäßig kam, um die Überreste von gestern abend aufzuräumen. Peinlich, daß Anja noch im Bett lag. Aber Frau Schütte
kannte Anja inzwischen und hatte sich ohne irgendein Zeichen von Mißbilligung an ihre Schwächen und Sonderlichkeiten gewöhnt.
Sie war eine der patenten Frauen aus einfachen Verhältnissen, die von frühan gelernt hatten, die Dinge zu nehmen, wie sie kamen, und dabei unbeirrbar an ihren eigenen Überzeugungen festzuhalten. Gut,
daß sie jetzt kam. Dann konnte er ihr Daniel überlassen und früher als geplant ins Gericht fahren, damit er nicht in Frau
Schüttes Gegenwart erleben mußte, daß Anja unter dem Vorwand, sie sei krank, den halben Vormittag im Bett vertrödelte. Er
ließ Frau Schütte herein und sagte bei der Begrüßung wie beiläufig, seine Frau fühle sich leider nicht wohl und sei noch liegengeblieben.
Und Daniel liefe noch im Schlafanzug herum, habe auch noch nicht gefrühstückt.
»Ich muß jetzt ins Gericht«, fügte er hinzu. »Aber bei Ihnen weiß ich ja alles in guten Händen.«
Vielleicht hätte er das nicht sagen dürfen, weil es wie eine versteckte Kritik an Anja klang. Doch Frau Schütte faßte es anscheinend
nicht so auf. Entweder hatte sie kein Gespür für solche Untertöne, oder sie folgte dem Grundsatz, sich aus den persönlichen
Problemen anderer Leute herauszuhalten. Beides schätzte er als solide Grundlage einer funktionierenden Gesellschaft.
»Ich schreibe meiner Frau noch einen Zettel«, sagte er. »Vermutlich bin ich mittags wieder zurück.«
Als er den Wagen aus der Garage fuhr, fühlte er sich schon besser.
Auf den Fluren des Gerichtsgebäudes herrschte lebhafter Publikumsverkehr. Zeugen saßen vor den Gerichtssälen auf den Wartebänken,
und Anwälte, die ihre Robe noch über dem Arm trugen, eilten zu ihrem Termin. Er hatte heute einen Haftprüfungstermin, mehr
oder minder eine Routineangelegenheit. Die Akte, die auf dem Schreibtisch seinesBüros bereitlag, hatte er gestern schon durchgesehen. Der Beschuldigte mit dem Namen Andreas Liebstöckel, der seit eineinhalb
Jahren in Untersuchungshaft saß, weil die Ermittlungen sich wegen seiner vielen Straftaten als schwierig erwiesen hatten,
war ein gescheiterter Geschäftsmann, der schuldlos durch den Bankrott eines wichtigen Handelspartners in eine schwierige Lage
geraten war, die er dann bei dem Versuch, die erlittenen Verluste durch spekulative Geschäfte schnell wieder auszugleichen,
noch erheblich verschlimmert hatte. Schließlich waren noch Spielschulden hinzugekommen, die man wohl als das Ergebnis eines
letzten, verzweifelten Versuches werten mußte, dem Ruin durch einen großen Glückstreffer zu entgehen. Danach hatte er endgültig
die Hoffnung aufgegeben, sein Geschäft auf legale Weise konsolidieren zu können. Er
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