Der Liebeswunsch
maroden Körpern in den Krankenzimmern oder den zerlesenen und längst veralteten Illustrierten, die vor ihr auf der
Tischplatte lagen. Sie zog das oberste Heft an sich heran, blätterte darin und legte es wieder weg. In dem Seitengang stand
inzwischen der Wagen mit den Portionen des Mittagessens, weiße Kunststoffkästen, die von zwei Schwestern in die Krankenzimmer
getragen wurden. Leonhard wird jetzt bald nach Hause kommen, dachte sie. Aber sie war hier, unerreichbar für ihn, nicht ansprechbar,
nicht haftbar zu machen, nicht jetzt, solange das hier dauerte.
Durch den Gang, an dessen Ende sie saß, schritt eine Ärztin auf sie zu, eine kräftige, mittelgroße Frau mit kupferrot gefärbten
Haaren, die ihren weißen Kittel nicht zugeknöpft hatte, als hätte sie ihn eben erst übergezogen. Sie stellte sich als die
Stationsärztin vor, setzte sich zu ihr an den Tisch und begann gleich mit den Befunden.
Daniels Zustand sei jetzt stabil. Aber er müsse sicher einige Wochen in der Klinik bleiben. Ob größere Narben zurückblieben,
die zu Verwachsungen und Fehlhaltungen führten, sei noch nicht vorauszusagen. Vorläufig müsse erauf der Isolierstation bleiben, denn bei Verbrühungen großer Hautflächen bestehe längere Zeit erhöhte Infektionsgefahr.
»Kann ich ihn sehen?« fragte sie.
»Er liegt hier in der Isolierstation«, sagte die Ärztin. »Besuch kann er vorläufig nicht bekommen. Wenn es soweit ist, rufen
wir Sie an.«
»Aber ich will ihn ja nur sehen«, bettelte sie.
»Gut. Wir können von außen einen Blick in das Zimmer werfen. Aber Sie können nicht zu ihm.«
Durch eine schwere Außentür mit brandsicherem Glas traten sie in einen loggiaähnlichen Umgang, der außen an den Fenstern der
Isolierstation vorbeiführte.
»Das zweite Fenster«, sagte die Ärztin.
Sie blieben vor der Scheibe stehen und blickten in einen Raum mit zwei Kinderbetten. Das Bett in der Nähe des Fensters war
unbenutzt. In dem hinteren Bett, nah bei dem Fenster zum Korridor der Station, in dem nur das gleichmäßige Licht der Deckenbeleuchtung
und eine kahle Wand zu sehen waren, lag Daniel. Sein schmächtiger Kinderkörper war nackt und fast zur Hälfte mit Gazestreifen
bedeckt. Beide Hände waren mit weißen Stoffmanschetten ans Bett gefesselt. Neben dem Bett stand ein fahrbarer Ständer mit
einem Infusionsbeutel, der an Daniels linken Arm angeschlossen war. Andere Kabel führten von seiner Brust und den Armen zu
einem Monitor über ihm an der Wand, über den, von der Seite schwer erkennbar, die grüne Zackenlinie seines Herzschlages lief.
Daniel lag auf dem Rücken und schien die gegenüberliegende Zimmerwand anzustarren. Sie konnte aber nicht erkennen, ob seine
Augen geöffnet oder geschlossenwaren. Sie wollte sich bemerkbar machen und an die Scheibe klopfen, aber die Ärztin hielt sie davon ab. Daniel solle sich
nicht aufregen und still liegenbleiben.
»Bleibt er allein in diesem Zimmer?«
»Die erste Zeit ja.«
»Und warum sind seine Hände gefesselt?«
»Weil er sich sonst kratzen würde.«
»Natürlich«, sagte sie. Aber sie spürte, daß sie in Gefahr war, ihre Fassung zu verlieren.
»Ich finde es schrecklich, daß er so allein ist.«
»Wir kümmern uns um ihn. Unsere Schwestern haben darin große Erfahrung und sind sehr motiviert. Im übrigen können Sie davon
ausgehen, daß Kinder besser mit solchen Situationen fertigwerden als Erwachsene.«
Sie hörte diese Worte und schaute zu Daniel hinüber in der beängstigenden Gewißheit, daß sie in seinem Fall nicht stimmten.
Einen unbestimmt langen Augenblick standen sie schweigend nebeneinander, und sie verstand, daß die Ärztin ihr noch etwas Zeit
lassen wollte, Daniel anzuschauen und ihre Gefühle und Gedanken zu ordnen. Aber sie konnte nichts anfangen mit der geschenkten
Frist und fühlte sich festgehalten von einer fremden Erwartung. Die Glasscheibe, die sie aus dem Zimmer aussperrte, ließ den
gefesselten, mit weißer Gaze bepflasterten Kinderkörper, der reglos auf dem Bett lag, wie die unheimliche Ankündigung eines
anderen, endgültigen Bildes erscheinen: Mußte er sterben? Nein, nein, nein, dachte sie – Worte, die wie aufgescheuchte Vögel
in ihr aufflogen. Es war gefährlich, das überhaupt zu denken. Vage rechnete sie mit dunklen Mächten, die auf solche Augenblicke
wankender Zuversicht lauerten.
Schließlich sagte die Ärztin im Tonfall eines Resümees: »Jetzt wollen wir erst einmal schauen, daß
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