Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Liebeswunsch

Der Liebeswunsch

Titel: Der Liebeswunsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
Vom Netzwerk:
tägliche
     Dosis Ernüchterung holte, die sie brauchte, um den Tatsachen ihres Lebens erneut zu begegnen. In diesen Momenten, in denen
     er sie stumm von der Seite anschaute, ohne daß sie seine Anwesenheit im Badezimmer überhaupt zu bemerken schien, war immer
     das Begehren in ihm hochgeschossen, der Wunsch, sie hochzuheben und ins Bett zu tragen, dem er allerdings nie gefolgt war.
     Es erschien ihm unmöglich, sie in dieser schläfrigen und tastenden Suche nach sich selbst zu stören, indem er sich ihr gewaltsam
     aufdrängte als ihr Mann, der dazu berechtigt war und in einem peinlichen Kontrast zu ihrer Schutzlosigkeit gewaschen und rasiert,
     in gebügelter Hose, weißem Hemd und eben erst umgebundener Krawatte in offizieller Korrektheit schräg hinter ihr stand. Obwohl
     er sich nicht ganz sicher war, fürchtete er, daß er auf sie lächerlich wirken mußte, wenn er seinen Phantasien nachgab und
     sie vom Spiegel und ihrem Spiegelbild wegtrug, als spiele er eine Szene aus einem melodramatischen Film nach oder richte sich
     nach einer berühmten Mythendarstellung der Bildhauerei – im Palazzo Borghese in Rom hatten sie beide vor Berniris »Raub der
     Sabinerinnen« gestanden. Vielleicht würde sie sich daran erinnern. Nein, es war unmöglich. Jedenfalls für ihn. Er konnte ihr
     auch nicht mitteilen, welche Gedanken er manchmal hatte. Denn das würde ihn dazu verurteilen, diese Gedanken zu verwirklichen,
     um nicht in ihren Augen als ein Mann dazustehen, der nicht genug Mut und erotische Initiative hatte.
     
    Alles hing natürlich auch damit zusammen, daß sie ihm keinerlei Zeichen gab, nur diese unbewußten Signale ihrer Bewegungen
     und ihrer Erscheinung, die ihn immer wieder irritierten.
    Er ging nach unten, um den Frühstückstisch zu decken, und setzte Kaffeewasser auf. In dem großen bunten Blumenstrauß, den
     er zu den Geschenken gestellt hatte, ließen schon einige gelbe Rosen ihre Köpfe hängen. Er zupfte sie heraus und warf sie
     in den Mülleimer. Es waren immer noch genug Blumen. Sie sahen jetzt sogar schöner aus, weil sie nicht so gedrängt standen.
     Der Kaffee war durchgelaufen. Er stellte die Kaffeekanne auf den Rechaud und goß sich eine Tasse ein, ohne schon ein Brötchen
     aus dem Korb zu nehmen.
    Anja kam nicht. Er hörte sie auch nicht ins Badezimmer gehen. Das wird wohl nichts mit dem gemeinsamen Frühstück, dachte er
     und strich Butter und Honig auf eine Brötchenhälfte.
    Er hatte einmal in einer psychologischen Zeitschrift eine Ehetheorie gelesen, nach der in Zweierbeziehungen der Partner mit
     dem weiteren und entwickelteren Bewußtsein das Bewußtsein des anderen Partners in sich einschloß. In der Terminologie des
     Autors hieß das, einer der Partner hatte die Rolle des Enthaltenden. Der andere, meist der Abhängige und weniger Gebildete,
     war der Enthaltene. Der Autor hatte dieses Modell in mehreren Varianten durchgespielt. Einige Zeit hatte er gedacht, darin
     das Grundmuster seiner Ehe mit Anja vor sich zu sehen. Inzwischen wußte er, daß es sich ganz anders verhielt und sie zwei
     aneinandergrenzende, sich nur wenig überschneidende Kreise waren. Nein, er umschloß sie nicht. Es warihm nicht gelungen, sie zu einem Bestandteil seiner Welt zu machen. Obwohl sie sich ihm kaum widersetzt hatte, war sie ihm
     immer wieder entglitten. Und wenn es darauf ankam, sich gegen ihn zu behaupten, hatten sich immer ihre Schwächen als ihre
     Stärken erwiesen. Aus ihren Krankheiten und Verstimmungen hatte sie weitreichende Privilegien gemacht, was sich jetzt wieder
     darin zeigte, daß sie ihn mit seinen Geschenken hier unten warten ließ und nicht zum gemeinsamen Frühstück kam. Vielleicht
     erschien ihm das nur so skandalös, weil er an der Idee einer Ehegemeinschaft mit weitreichender Übereinstimmung der Gewohnheiten
     beider Partner festhielt. Allerdings, daß jetzt Daniel ungewaschen, im Schlafanzug und auf nackten Füßen die Treppe herunterkam,
     ohne daß sich Anja oben bemerkbar machte, war nun wirklich ein Zustand, der an Gleichgültigkeit und Verwahrlosung grenzte.
     Für den Jungen war das ganz schlecht, nicht nur, weil er sich erkälten konnte, sondern weil er keine Ordnung lernte. Und er
     selbst wiederum wurde durch Anjas Schlamperei in die Rolle eines pedantischen und strengen Vaters gedrängt.
    »Was ist los, Daniel? Warum bist du nicht angezogen?«
    Daniel blieb auf den unteren Stufen stehen, stellte einen Fuß auf den anderen und schmiegte sich verlegen an das

Weitere Kostenlose Bücher