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Der Liebeswunsch

Der Liebeswunsch

Titel: Der Liebeswunsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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sein Kreislauf stabil bleibt.
     Der Schock und die Spritze waren ein bißchen zuviel für ihn.«
    Damit wandte sie sich zum Gehen und führte sie mit sanfter Bestimmtheit von dem Fenster weg. Im Korridor verabschiedete sich
     die Ärztin und ging in anderer Richtung weiter, anderen Pflichten entgegen. Sie blickte ihr nach und mußte einen Moment der
     Starrheit überwinden, bevor sie zum Aufzug ging.
    Zusammen mit Patienten und Klinikpersonal fuhr sie ins Erdgeschoß hinunter, und als sie aus der sich öffnenden Stahltür in
     die große Eingangshalle trat, durch deren Glasfront sie die im hellen Mittagslicht liegende Straße und die dort wartenden
     Taxis sah, bekam sie einen Angstanfall. Es war, als bräche der innere Halt zusammen, mit dem man normalerweise dem Druck der
     Welt widerstand, und eine unsichtbare Gewalt, die aus der Luft zu kommen schien, fiel von allen Seiten über sie her und würgte
     sie, so daß sie wie angewurzelt stehenblieb. Dämmerlicht verengte ihren Blick und ließ nur einen einzigen grellen Gedanken
     übrig: Ich kann jetzt nicht nach Hause, wo mich Leonhard erwartet. Ich kann nicht! Nein!

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    8
Ein Richterspruch
    Er hatte den Wecker auf sieben Uhr gestellt, und das Klingeln seines altmodischen Weckers zerfetzte seinen Traum wie ein Stück
     Papier.
    Er brauchte einen Augenblick, um dem zerrinnenden Spuk nachzusinnen, dann streckte er den Arm aus und zog den Vorhang des
     Fensters neben seinem Bett beiseite. Das helle Morgenlicht beleuchtete die farbigen Buchrücken der bis zur Decke reichenden
     Bücherwand ihm gegenüber, und wie manchmal verfiel er darauf, die Buchrücken eines Faches durchzuzählen. Waren es 39 oder
     40? Er glaubte sich verzählt zu haben und mußte es noch einmal wiederholen, ehe er davon ablassen konnte. Der Sekundenzeiger
     seines Weckers war indessen noch keine Minute weitergewandert, als sei die Zeit noch nicht in Gang gekommen. Schläfrigkeit
     schloß ihm wieder die Augen. Hinter den geschlossenen Lidern versuchte er, sich zu sammeln.
    Heute war Anjas Geburtstag. Und gestern waren Marlene und Paul zum Romméabend gekommen, um mit ihnen in den Geburtstag hinüberzufeiern.
     Er war dankbar gewesen, daß sie zugesagt hatten, denn zur Zeit klappte seine Verständigung mit Anja nicht besonders gut, und
     es war besser, empfindliche Situationen wie ein Geburtstagsessen zu zweit zu vermeiden. In solchen Fällen waren Paul und Marlene,
     besonders aber Marlene, eine großeHilfe, einfach dadurch, daß sie ihre eigene Lebensstimmung mitbrachten und gute Laune verbreiteten. Sie gaben den Ton an.
     Und bis zu einem gewissen Grade ließ sich auch Anja darauf einstimmen.
    Gestern kam wieder ihre Migräne dazwischen. Sie hatte wirklich blaß ausgesehen. Deshalb hatte er auch akzeptiert, daß sie
     nach dem Abschied von Paul und Marlene alles stehen- und liegenließ und schlafen ging, ohne vorher seine Geschenke anzuschauen.
     Sie hatte ihn gebeten, es bis heute morgen aufzuschieben. Er hatte beschlossen, früher aufzustehen und den Frühstückstisch
     zu decken. Heute vormittag mußte er ins Gericht wegen eines Haftprüfungstermins, bei dem er den Vorsitz hatte. Doch für ein
     gemeinsames Frühstück blieb auf jeden Fall noch genug Zeit.
    Während er sich im Badezimmer wusch und rasierte und wie gewöhnlich ein frisches weißes Hemd anzog und sorgfältig die Krawatte
     band, hatte er erwartet, daß sich hinter ihm die Tür öffnen und vor ihm im Spiegel Anjas schläfrige Gestalt erscheinen würde.
     Manchmal stand sie dann da im Nachthemd, mit gelösten Haaren, an den Türrahmen gelehnt, und hielt einen Handrücken vor den
     Mund, um ihr Gähnen zu verbergen, das ihr als ein kleiner, heller Laut entschlüpfte. Und dies war einer der Anblicke, die
     ihn in den ersten Monaten seiner Ehe sowohl befremdet wie auch immer wieder fasziniert hatten, denn sie kam herein, als träume
     sie noch und wisse nicht, was sie hier solle. Wie sie da stand, achtlos und unbewußt, erschien sie ihm in erhöhtem Maße sichtbar,
     weil nicht die geringste Zweckhaftigkeit ihrem Erscheinen aufgeprägt war. Auch wenn sie dann vor den Spiegel trat und ihr
     üppiges, vom Schlaf zerwühltes Haar mit beiden Händen aus den Schläfen wegstrich undhinter die Ohren zurückschob, konnte er nicht erkennen, weshalb sie das machte und was sie an ihrem von den Haaren freigehaltenen
     Gesicht betrachtete. Es schien ein illusionsloser Blick zu sein, mit dem sie sich jeden Morgen nach dem Erwachen die

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