Der Liebeswunsch
Stimme,
er bäte im Namen seiner Frau und seiner Kinder, die ihm verziehen hätten und bereit seien, ihn wieder aufzunehmen, um Haftverschonung
bis zur Hauptverhandlung. Das war offenbar eine Formel, die er von seinem Anwalt hatte, der die Wiederherstellung der familiären
Beziehungen in seiner Antragsbegründung zum Hauptargument ausbaute, unterstützt durch die Tatsache, daß Liebstöckel inzwischen
anderthalb Jahre in Untersuchungshaft saß, sich gut geführt und bei den Ermittlungen kooperativ gezeigt hatte. Es war ein
ziemlich schematisches Plädoyer,dem er anhörte, daß der Anwalt damit nur einer Routinepflicht genügte.
Sobald der Anwalt seinen Antrag verlesen und begründet hatte, unterbrach Leonhard die Sitzung und zog sich mit seinen Beisitzern
ins Beratungszimmer zurück. Sie wurden sich schnell einig, daß der Antrag abzulehnen sei. Die Gründe lagen auf der Hand. Angesichts
der kriminellen Energie des Beschuldigten, seiner langen Auslandsaufenthalte und der zu erwartenden Haftstrafe von sieben
bis siebeneinhalb Jahren war weiterhin Fluchtgefahr anzunehmen. Außerdem bestand Verdunkelungsgefahr, weil von der erheblichen
Beute, die der Beschuldigte gemacht hatte, bisher erst sechstausend Mark aufgetaucht waren und die Behauptung, er habe das
meiste Geld beim Glücksspiel verloren, als Schutzbehauptung gelten müsse. Überdies könne der Beschuldigte in spätestens einem
halben Jahr mit der Hauptverhandlung rechnen. Der Antrag sei damit abgewiesen.
Er schrieb den Ablehnungsbescheid und die Begründung mit der Hand auf ein Blatt Papier, das sie alle drei unterzeichneten.
Die Protokollführerin würde es nachher übernehmen und eine Abschrift anfertigen, die in Kopien zu den Akten kam. »Gut, dann
können wir ja gehen«, sagte er.
Gemeinsam standen sie auf und kehrten in der hierarchischen Reihenfolge in den Saal zurück. Mit derselben ruhigen Stimme,
mit der er die Sitzung vor zwanzig Minuten eröffnet hatte, trug er die Entscheidung vor und konnte einige Sekunden lang eine
vertiefte Ruhe im Saal spüren. Dann ordnete er noch an, den Beschuldigten unverzüglich wieder in die Justizvollzugsanstalt
zurückzuführen, und erklärtedie Verhandlung für geschlossen. Alle standen wieder auf, als er, gefolgt von den Beisitzern, den Saal verließ.
»Das ging ja heute schnell und schmerzlos«, bemerkte Kollege Retsch.
»Ob schmerzlos, weiß ich nicht«, antwortete er und fing einen zustimmenden Blick von Dr. Kemna auf.
Das Ganze sei ja eine richtige Räuberromanze, sagte Kemna. Vor allem diese geheimen Treffen im Ausland, bei denen Liebstöckel
seiner Frau einen Anteil seiner Beute übergeben hatte.
»Erstaunlich diese Treue«, sagte Retsch.
»Da waren wohl noch heißere Gefühle im Spiel«, meinte Kemna. »Schon allein wegen der besonderen Umstände: der Gefahr, entdeckt
zu werden. Und auf Gedeih und Verderben miteinander verbündet zu sein.«
»Ja, klar, das war Wasser auf die Mühle«, sagte Retsch, der nie besonders treffsicher formulierte.
»Ich hätte die Frau gerne einmal gesehen«, sagte Kemna. »Vielleicht ist sie eine ganz unscheinbare Person.«
Leonhard hatte der Unterhaltung der beiden zugehört, und um auch etwas beizutragen, sagte er beiläufig, aber mit seiner eingefleischten
Routine, abschließende Sätze zu bilden: »Vermuten kann man vieles. Wissen tun wir nur wenig.«
Die Kollegen pflichteten ihm bei, indem sie verstummten. Retsch, der in ein anderes Stockwerk mußte, verabschiedete sich,
als sie bei den Aufzügen vorbeikamen.
Er ging weiter, neben sich Dr. Kemna, seinen jungen Beisitzer, den er im Augenblick fast vergaß, weil sich in seinem Gedächtnis
zwei weit auseinanderliegende Geschehnisse berührt hatten: das sekundenlange Schweigen nach dem Verlesen des Ablehnungsbescheides und die dunkle Erinnerung daran, daß er als Junge beim Anblick eines stillen, glatten Gewässers,
eines Teiches oder Sees, immer Ausschau gehalten hatte nach einem schweren Stein, den er hineinwerfen konnte, um die sich
ausdehnenden Wellenringe zu beobachten. War es vielleicht das, was er wie ein fernes Echo in sich empfand, wenn er ein Urteil
sprach und die Spannung im Saal spürte? Oder war das ein abwegiger Gedanke, ein zu weit hergeholter und jedenfalls unstatthafter
Vergleich?
Mit der Akte unterm Arm ging er zu seinem Zimmer zurück. Neben sich Kemna, der ihn auf einen Kriminalbericht in der Tageszeitung
ansprach. Er hatte die Zeitung wegen der
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