Der Liebeswunsch
zwischen
ihnen. Sie würde vielleicht etwas anderes dahinter vermuten – einen Versuch, sie zu kontrollieren oder Druck auf sie auszuüben.
Sie war in letzter Zeit sehr empfindlich geworden, und er wußte nicht, woran das lag.
Er schaute wieder in die Akte vor ihm auf dem Tisch. Das eigentlich Bemerkenswerte an diesem Fall war für ihn die Tatsache,
daß Liebstöckel, der nach dem selbstverschuldeten Bankrott seine Familie verlassen hatte, um sein zweites, sein kriminelles
Leben anzufangen, in den letzten Jahren laut den Ermittlungen der Polizei wieder Verbindung mit seiner Frau aufgenommen hatte.
Sie hatten anscheinend das eine oder andere Treffen vereinbart, und er hatte ihr bei diesen Gelegenheiten Geld gegeben. Wie
weit die Frau sich dabei mitschuldig gemacht hatte, war noch ungeklärt. Vielleicht hatte sie ihrem Mann dabei geholfen, das
erbeutete Geld verschwinden zu lassen. Ob sie als Person dazu bereit und überhaupt fähig gewesen wäre, war eine Frage, die
nicht gestellt worden war. Denn die Version Liebstöckels, er habe das ihm noch verbliebene Geld aus seinen Beutezügen restlos
der Polizei übergeben, konnte bisher nicht erschüttert werden.
Immerhin, die Frau hatte zu ihrem Mann gehalten, als sei die Familie ein eigenes moralisches System, das einen unbedingten
Vorrang vor der Moral der Gesellschaft und dem Gesetz hatte. Dieser Zusammenhalt hatte etwas Naturhaftes und Selbstverständliches,
das immer schon wortlos begründet schien. Daß der Anwalt in seinem Antrag aus der erneuten Annäherung der Ehepartner die Wünschbarkeit
und Unbedenklichkeit einer Haftverschonung ableitete, warzwar nicht grundsätzlich falsch, setzte sich aber über die Möglichkeit hinweg, daß es sich hier auch um ein kriminelles Bündnis
handeln konnte, in dem die Frau völlig abhängig vom Willen ihres Mannes war.
Er schlug die Akte wieder zu und stand auf, um sich die weiße Krawatte umzubinden und die Robe überzuziehen. Kurz danach klopfte
es, und die Kollegen Retsch und Dr. Kemna traten ein. »Bitte nehmen Sie einen Augenblick Platz in meiner Hütte«, sagte er
und wies auf die beiden Stühle mit Armlehnen, die zur Standardausrüstung der Richterzimmer gehörten und von einem Kollegen
als abgespeckte Sessel bezeichnet worden waren. Dann drückte er auf die Ruftaste der Wachtmeisterei und sagte zu dem sich
meldenden Beamten: »Führen Sie den Beschuldigten Andreas Liebstöckel in Saal 11 zur Verhandlung vor.«
Zehn Minuten später betraten sie, aus dem Beratungszimmer kommend, den Gerichtsaal, stellten sich nebeneinander hinter dem
Richtertisch auf, der Vorsitzende in der Mitte zwischen den Beisitzern, und nahmen dann Platz. Auch die Leute im Saal, die
beim Eintritt des Gerichts aufgestanden waren, setzten sich wieder.
Seiner Gewohnheit folgend eröffnete Leonhard die Verhandlung, indem er mit monotoner Stimme den Namen des Beschuldigten und
die Tatsache, daß sein Anwalt einen Antrag auf Haftverschonung gestellt hatte, aus der Akte vorlas, denn dieses Zitieren aktenkundiger
Texte schuf eine unanfechtbare Distanz, die seiner Überzeugung nach die richtige Voraussetzung für die Urteilsfindung war.
Man mußte flach und trocken beginnen, um gleich zu Anfang die Emotionen in Schach zu halten. Dem diente auch seine Anordnung,dem Beschuldigten, der ja immerhin ein berüchtigter Bankräuber gewesen war, für die Dauer der Verhandlung die Handschellen
abzunehmen.
Andreas Liebstöckel war ein schmächtiger, mittelgroßer Mann mit ergrauenden Haaren, der trotz der beträchtlichen kriminellen
Energie, die er bewiesen hatte, unauffällig wirkte und mit gesenktem Kopf neben dem Wachtmeister saß. Ohne die Handschellen
schien er einen Augenblick lang nicht recht zu wissen, wo und wie er seine Hände hinlegen solle. Es sah so aus, als wolle
er es um jeden Preis richtig machen. Viele Untersuchungsgefangene zeigten solche kleinen gestischen Verlegenheiten. Eine Minderheit
von gröber wirkenden Personen saß stumpf und reglos auf der Anklagebank, als glitte alles an ihnen ab oder als verstünden
sie nicht, was vor sich ging. Bei Liebstöckel mußte man nach der Beurteilung des psychologischen Gutachters eine überdurchschnittliche
Intelligenz voraussetzen, die aber durch die Labilität seiner Person beeinträchtigt war. Auf die Frage, ob er etwas zu dem
Antrag seines Verteidigers sagen wolle, antwortete er mit »Jawohl, Herr Vorsitzender« und sagte dann mit belegter
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