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Der Liebeswunsch

Der Liebeswunsch

Titel: Der Liebeswunsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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Ordnung zu sein. Die Tür von Anjas Zimmer war zu.
    Er stieg wieder in sein Bett und zog die Decke zum Hals hoch. Ich muß mit ihr sprechen, dachte er. Aber zuerst kamen andere
     Dinge wie der Besuch beim Zahnarzt. Etwas verwirrte sich, weichte auf, verschwand. Ohne einen Einspruch der Vernunft sah er
     sich hoch über der nächtlichen Stadt auf einem schmalen Gesims liegen. Er war dieser dunkle Körper, den er zugleich von außen
     sah. Und er, der alles sah, konnte dem Liegenden nicht helfen, konnte ihn nicht daran hindern, eine falsche Bewegung zu machen.
     ImStürzen wurde das Traumbild mitgerissen, ein schwarzes Tuch, hinter dem sich nichts verbarg.
    Ein Martinshorn heulte durch entfernte Straßen, wahrscheinlich der Notarztwagen oder die Feuerwehr. In diesen frühen Morgenstunden
     starben besonders viele Menschen, vor allem wenn sie allein waren und niemand Hilfe herbeirief und den Krankenträgern die
     Tür öffnete. Auch er mußte sich in acht nehmen. Er hatte Übergewicht, zu hohen Blutdruck, zu hohe Zuckerwerte, und er bewegte
     sich zu wenig. Aber die Vorstellung, Gymnastik zu machen, war ihm fremd. In letzter Zeit fiel ihm manchmal auf, wie schwerfällig
     und gravitätisch er sich bewegte. Das hieß nicht, daß er ruhig war. Sein Herz schlug auch jetzt wieder viel zu schnell und
     kam immer wieder aus dem Takt. Manchmal hatte er nach jedem zweiten Schlag einen Aussetzer, dann nach jedem fünften, jedem
     neunten Schlag. Und dann ging es eine Zeitlang regelmäßig weiter, bis wieder das Stolpern begann. Am besten, er achtete nicht
     darauf. Dann wurde es vielleicht allmählich besser. Wenn er doch bloß schlafen könnte, um eine Weile wegzutauchen aus den
     Spannungen, die ihn beherrschten. Schlaf war in schwierigen Situationen immer seine Rettung gewesen. Ein tiefer Schlaf hatte
     ihn stets wieder heil gemacht.
    Nein, es hatte keinen Zweck mehr. Er würde den Rest der Nacht besser überstehen, wenn er sich in seinem Arbeitszimmer in seinen
     Sessel setzte und etwas las. Schwerfällig quälte er sich aus dem Bett, zog den Bademantel über und ging nach unten. Dämmeriges
     Morgengrau schien das Erdgeschoß gegen ihn zu verschließen – ein Mehltau aus Stille, der auf allem lag. Er setzte sich in
     seinen Lehnsessel und knipste neben sich das Licht der Stehlampe an. Auf dem Beistelltisch lag der kleine gelbe Band: Gaius Julius Caesar, Der Gallische Krieg. Er hatte das Buch seit vielen Jahren nicht
     mehr in der Hand gehabt und davor auch nur, um etwas nachzuschlagen oder einen einzelnen Abschnitt zu lesen, an dem sein Blick
     beim Blättern zufällig haftengeblieben war. Aber gestern abend, nachdem Anja wieder frühzeitig in ihrem Zimmer verschwunden
     war, hatte er den Band zwischen den voluminösen Buchrücken seiner Sammlung zur römischen Geschichte herausgezogen und noch
     zwei Stunden darin gelesen, und seine Alltagssorgen und Mißstimmungen waren in den Hintergrund getreten und verblaßt. Er hatte
     sich in der Gesellschaft eines nüchternen und klaren Geistes gefühlt, der ihn daran erinnerte, daß das Leben etwas anderes
     und Größeres sei als die privaten Verstimmungen und Verwirrungen, die ihn umgaben. Und auch jetzt, als er den Anfang des siebten
     Buches aufschlug, wo sein Lesezeichen steckte, spürte er gleich bei den ersten Sätzen, wie der sachliche, lakonische Stil
     des berühmten Kriegsberichtes ihn ordnete und entspannte:
    »Da in Gallien Ruhe herrschte, brach Caesar, wie er es sich vorgenommen hatte, nach Italien auf, um Gerichtstage abzuhalten.
     Dort erfuhr er von dem Mord an P. Clodius und wurde von dem Senatsbeschluß in Kenntnis gesetzt, daß alle Wehrpflichtigen in
     Italien gemeinsam den Fahneneid leisten sollten. Er beschloß daraufhin, überall in der Provinz Truppen auszuheben. Diese Tatsachen
     drangen schnellin das transalpinische Gallien. Die Gallier schmückten die Gerüchte aus und erfanden noch hinzu, was ihnen
     aus dieser Situation zwingend hervorzugehen schien: Caesar werde durch Unruhen in der Hauptstadt aufgehalten und könne auf
     Grund dieser innenpolitischen Kämpfe nicht zum Heer kommen.«
    Bis hierhin hatte er gelesen, als er ein Geräusch an der Haustür hörte. Das Schloß wurde von außen aufgeschlossen, und leise
     kam jemand herein, der die Tür in dem offensichtlichen Bemühen, niemanden auf sich aufmerksam zu machen, fast lautlos wieder
     schloß. Dann hörte er nichts mehr, als warte der andere und lausche wie er. Diese plötzliche Stille hinderte

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