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Der Liebeswunsch

Der Liebeswunsch

Titel: Der Liebeswunsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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genäht. Zum
     Schluß spritzte ihm der Arzt ein Antibiotikum.
    Als er die Praxis verließ, um zu seinem in der Nebenstraße geparkten Auto zu gehen, taumelte er und mußte stehenbleiben. Sein
     Blickfeld schrumpfte, und einen Moment fürchtete er zu stürzen. Dann fuhren die automatischen Türen der Dunkelheit wieder
     auseinander, und er konnte langsam weitergehen. Nein, er konnte jetzt nicht gleich ins Gericht fahren und den Prozeßplan fertigstellen.
     Erst mußte er sich ein, zwei Stunden hinlegen.
    Umwölkt von Müdigkeit lenkte er den Wagen durch den Verkehr nach Hause. Anja war nicht da. Daniel wohl im Kindergarten. Er
     war so erschöpft, daß er es nur flüchtig registrierte und an nichts weiter denken konnte. Schwerfällig schleppte er sich die
     Treppe hoch, zog die Vorhänge zu und entkleidete sich. Kaum im Bett, versank er schon in Wärme und Dunkelheit. Schwarze Wolle
     des Schlafes.
     
    Die Terrasse liegt in einem hellen klaren Licht. Er und Anja sitzen auf weißen Gartenstühlen in einigem Abstand einander gegenüber.
     Sie weiß gekleidet, irgendwie makellos und unberührbar. Auf einmal sieht er, daß überall auf den hellen Steinplatten der Terrasse
     grätige Fischgerippe mit Käferbeinen sitzen. Die meisten sind reglos, einige bewegen sich zeitlupenhaft langsam, als klebten
     ihre Füße an einer unsichtbaren, zähen Masse fest. Manchmal kommt eins los und zuckt eidechsenschnell einige Schritte vorwärts
     und erstarrt. Auch an den Stuhlbeinen sitzen sie, einige sind übereinandergekrochen. Auf der runden Platte des weißen, ein
     Stück zur Seite geschobenen Gartentisches haben sie sich zu einer dichten schwarzen Menge zusammengedrängt. Vorhin waren sie
     noch nicht da. Werden es immer mehr? Er blickt zu Anja hin, weiß nicht, was sie denkt und was er jetzttun soll. Mit unbewegtem Gesicht zieht sie aus dem Ausschnitt ihrer Bluse eins der Gerippe hervor und zeigt es ihm.
     
    Er hatte sich den Wecker gestellt, aber was ihn weckte, war das Telefon. Er war noch nicht ganz bei sich, als er sich meldete
     und Marlenes Stimme hörte, die ihn fragte, ob er geschlafen habe.
    »Ja, ich habe mich hinlegen müssen. Ich hatte heute vormittag eine Zahnoperation.«
    »Ach du Armer. Und jetzt habe ich dich auch noch geweckt.«
    »Nein, das paßt mir gut. Ich muß noch ins Gericht. Ich wäre sowieso gleich aufgestanden.«
    »Ich wollte eigentlich Anja sprechen«, sagte sie.
    »Ich glaube, sie wollte noch zum Sender. Warte mal, hier liegt ein Zettel. Ja, sie ist beim Funk. Kann ich etwas ausrichten?«
    »Es ist nur wegen unseres Romméabends, der wieder verschoben werden muß. Ich fahre nämlich übernächstes Wochenende zum Onkologenkongreß
     nach München.«
    »Und ich fahre in drei Tagen nach Trier zu einer Tagung der Richterakademie. Ich muß einen Vortrag halten, der noch nicht
     fertig ist.«
    »Dann wünsche ich dir frohes Schaffen.«
    »Danke«, sagte er.
    Das Gespräch hatte ihm gutgetan, und um es noch einen Augenblick zu verlängern, fragte er: »Rufst du aus dem Krankenhaus an?«
    »Nein, ich bin heute zu Hause, weil ich wieder einmal Nachtdienst hatte.«
    »Ach so«, sagte er.
    Es war eine leere, nichtssagende Floskel, die ihm unterlief, weil ihn plötzlich wie ein warmer Dunst wieder die Müdigkeit
     überkommen hatte. Er hatte sich dumpf und schwach gefühlt und die Lust verloren, das Gespräch fortzusetzen.
     
    Erst drei Tage später, als er im Zug nach Trier saß und aus dem Fenster in die herbstbunte Eifellandschaft blickte, war ihm
     dieses Ach so unversehens wieder in den Kopf gekommen, diesmal als ein blitzartiges Aufmerken: Ach so! Marlene war also nicht
     zu Hause gewesen in dieser Nacht, als Anja, angeblich weil sie nicht schlafen konnte, das Haus verlassen hatte und gegen Morgen,
     nach wer weiß wie langer Abwesenheit, zurückgekommen war, um sich in ihr Zimmer zu schleichen.
    Der Einfall kam so überraschend, daß er den Atem anhielt, um sich gleich danach wie in Notwehr zur Wehr zu setzen: Das kann
     nicht wahr sein! Das ist absurd! Anjas Behauptung, sie sei draußen herumgelaufen, weil sie nicht schlafen konnte, war gewiß
     seltsam. Aber war es nicht viel phantastischer, aus der Tatsache, daß Marlene in derselben Nacht Dienst im Krankenhaus gehabt
     hatte, eine so weitreichende und folgenschwere Erklärung für Anjas Verhalten abzuleiten? War es vorstellbar, daß Anja so wahnsinnig
     war, sich in der Nacht aus dem Haus zu stehlen, um sich mit Paul zu treffen? Und war es nicht

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