Der Liebeswunsch
ihn daran, zu
erkennen, was vor sich ging. Hatte er sich vielleicht getäuscht? Mechanisch stand er auf und blickte in die Diele. Auf den
unteren Treppenstufen stand eine Frau, die ihre Schuhe in der Hand trug und sich erschrocken nach ihm umdrehte. Es war Anja.
»Wo kommst du her?« fragte er.
Nachträglich dachte er, daß er diese Frage nicht wirklich gestellt hatte. Er war viel zu verblüfft oder bestürzt gewesen,
um überhaupt eine Frage stellen zu können, von der er erwarten konnte, daß sie ihm diese Situation erschloß. Für ihn war die
Szene, die er sah, als er in den Flur trat – Anja ihre Schuhe in der Hand tragend, auf dem unteren Teil der Treppe, sich zu
ihm umdrehend mit diesem gejagten, flakkernden Blick –, so undurchdringlich wie ein Traumbild, dessen Bedeutung verborgen
blieb, und die Frage, die sich stellte und die er sich im selben Moment stellen hörte, klang in seinen Ohren so, als käme
sie aus einem Nebenraum, wo ein für ihn unsichtbarer Film lief.
»Wo kommst du her?«
»Von draußen«, sagte sie. »Ich bin draußen herumgelaufen, konnte nicht schlafen.«
Er starrte auf ihre Schuhe, die sie offenbar ausgezogen hatte, um sich lautlos in ihr Zimmer zurückzuschleichen.Aber die Frage, die er jetzt stellte, war nur ein Echo auf ihre Antwort.
»Und deshalb läufst du in der Nacht draußen herum?«
»Warum nicht?« fragte sie. »Was ist schon dabei?«
Er sagte nichts. Etwas hielt ihn davon ab, sie weiter zu verhören, bevor er gründlich nachgedacht hatte. Es fehlte ihm etwas,
wonach er suchen konnte. Die alte Gewohnheit, alles, was seine Erwartungen verletzte, aus seinem Leben fernzuhalten, hinderte
ihn noch daran, sich etwas ganz anderes vorzustellen, als sie gerade gesagt oder vorgegeben hatte.
Erst als er auf dem weit zurückgeneigten Stuhl des Zahnarztes lag und, für einen Moment allein gelassen, auf die Wirkung der
Spritze wartete, die der Arzt mit mehreren Einstichen in das geschwollene Zahnfleisch gesetzt hatte, kam der abgewehrte, abgebrochene
Gedanke wieder in seinen Kopf und hatte nun die Form des Zweifels angenommen: War es denn möglich, war es wahrscheinlich,
daß Anja mitten in der Nacht aus dem Haus ging, weil sie nicht schlafen konnte? Brauchte es dafür nicht einen anderen Grund?
Er wurde abgelenkt, weil der Arzt zusammen mit seiner Assistentin hereinkam, die Betäubung prüfte und mit der Wurzelresektion
begann. Auf seinen Wunsch hatte ihm der Arzt die Operation beschrieben, damit er ihr Fortschreiten verfolgen konnte. Zuerst
wurde das Zahnfleisch durchschnitten und vom Zahn abgelöst, und das rauhe Raspeln, das in kurzen Stößen seinen Kiefer erschütterte,
kam von der Fräse, die den Knochen abtrug, der die Zahnwurzel umschloß. Schon jetzt stellte es sich heraus, daß der Eingriff
schwieriger war, als es sich nach der Beschreibungangehört hatte. Der Backenzahn war für die Instrumente des Arztes schwer zugänglich, so daß die Assistentin fast gewaltsam
seinen Mundwinkel zur Seite zerren mußte. Da er weit nach hinten gekippt auf dem Stuhl lag, liefen ihm trotz des Absaugerohrs
ständig Speichel und Blut und das Kühlwasser des Turbinenbohrers in den Hals. Er verschluckte sich, mußte sich aufrichten
und husten. Die Assistentin fuhr mit dem Saugrohr in seinem Mund herum. Und wenn er sich wieder zurücklehnte und der Arzt,
dessen gerötete Stirn inzwischen von einem dünnen Schweiß überzogen war, sich erneut über ihn beugte, schloß er die Augen
und versuchte, an etwas anderes zu denken. Als sei das eine Zuflucht, sagte er sich, daß er zu Hause ein Problem habe, um
das er sich kümmern mußte, wenn das hier zu Ende war. Das Problem war nicht genau benennbar, nicht auf seinen Kern zu bringen,
stand ihm aber beunruhigend vor Augen, denn es war der Anblick von Anja, wie sie sich auf der Treppe mit einem flackernden
Blick nach ihm umdrehte, als er in die Diele trat. Das war im Augenblick das einzige Bild von ihr, das er sich vorstellen
konnte, als habe er sie lange Zeit nicht wahrgenommen oder sehe sie überhaupt zum ersten Mal.
Die Operation dauerte länger als erwartet. Die Betäubung mußte verstärkt und die Wundhöhle von einem ausgedehnten Eiterherd
und abgestorbenem Gewebe gereinigt werden. Schließlich, nach einigem Zögern, entschloß sich der Arzt auch noch, die alte Füllung
des Wurzelkanals herauszubohren und zu erneuern. Dann wurde alles noch einmal desinfiziert und das Zahnfleisch
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