Der Liebeswunsch
er einen Prozeß führte und stark gefordert war, hatte er es auch als angenehm empfunden, von ihrer Unruhe,
ihrer häufigen Schlaflosigkeit verschont zu bleiben. Inzwischen, spätestens seit der gemeinsamen Reise nach Florida, mußte
er sich eingestehen, daß sie den Kontakt verloren hatten. Er hatte sich die Urlaubszeit in Florida ganz anders vorgestellt
und die Tatsache, daß sie zu viert ein Haus am Meer mit zwei großzügig eingerichteten Apartments gemietet hatten, als willkommene
Ablenkung und als einen Schutz gegen Anjas Reizbarkeiten und Stimmungsschwankungen betrachtet. Ja, er hatte Angst davor gehabt,
zwei Wochen mit Anja allein zu sein, und Marlenes Idee eines gemeinsamen Urlaubs von Anfang an unterstützt. Wenn das Arrangement
auch Konflikte zwischen ihm und Anja verhindert hatte – für eine neue Annäherung war es nicht günstig gewesen. Marlene, die
die ganze Zeit in einer aufgedrehten Urlaubslaune gewesen war, hatte ihre kleine Gesellschaft durcheinandergewirbelt und häufig
anders gemischt. Sie war einige Male mit ihm weggefahren, um in einem der riesigen Supermärkte einzukaufen oder einen Ausflug
nach St. Augustine und Jacksonville zu machen, während Paul und Anja am Strand joggten oder im Swimming-pool hinter dem Haus
badeten. Marlene hatte manchmal dabei mitgemacht, aber er selbst hatte sich wegen der Schwerfälligkeit und Plumpheit seines
massigen Körpers nicht an diesen Vergnügungen beteiligt und sich, mehr als zu Hause, als Außenseiter der Gruppe gefühlt. Es
mochte ja sein, daß Marlene das gemerkt und sich deshalb besonders um ihn bemüht hatte. Von Anja hatte ihn diese Fürsorge
nur entfernt.
Nur nachts, im Doppelbett ihres Apartments waren sie alleine. Als er sich ihr aber näherte, hatte sie sich geweigert, ihn
aufzunehmen, und ihn statt dessen mit der Hand abgefertigt. Das hatte ihm zu seiner Verwirrung außerordentliche Lust bereitet,
weit mehr als der nun schon lange zurückliegende normale eheliche Geschlechtsverkehr, bei dem ihn immer das Gefühl der Plumpheit
und Schwere seines schwitzenden Körpers gehemmt hatte. Davon hatte sie ihn befreit, als sie es so machte. Aber er hatte das
Gefühl gehabt, daß sie es kalt und berechnend tat mit der anrüchigen Geschicklichkeit bezahlter Liebe. Trotzdem hatte er sie
bitten wollen, es zu wiederholen. Doch sie hatte es gleich von sich aus getan, als er sich ihr wieder zuwandte. Darüber gesprochen
hatten sie nie. Und zu Hause war es bei den getrennten Zimmern geblieben.
Vielleicht sollte er wieder einmal Gebrauch von dem ständigen Angebot seiner Schwiegermutter machen, einige Zeit herzukommen
und Daniel zu versorgen. Dann konnte er mit Anja eine Reise zu zweit machen. Bloß war daran vorerst nicht zu denken. Seinen
Vorschlag, für vier Tage mit nach Trier zu fahren, wo er bei einer Tagung der Richterakademie einen der Hauptvorträge halten
mußte, hatte sie gleich abgelehnt. Das hatte er im voraus gewußt. Obwohl manche Kollegen ihre Frauen mitbrachten, wäre Anja
in diesem Kreis ohne Anschluß geblieben, und einen Tag länger zu bleiben, wie er es vorhatte, um die römischen Sehenswürdigkeiten
zu besichtigen, vor allem das Amphitheater aus der Zeit Konstantins des Großen, war für sie auch nicht interessant, wie er
leider seit langem wußte. Und so wenig er ihre Gutachten für den Sender zur Kenntnis nahm, so wenig würde sie sich für seinen Vortrag interessieren. Er nahm das jedenfalls an.
Wenn die im Programm angekündigten Vorträge alle gehalten wurden, mußte das eine aufregende Tagung werden. Jemand sprach über
»Kriterien bei der Beurteilung von Zeugenaussagen«. Ein anderer Referent über »Indiz und Motiv. Zur Logik der Beweisführung«.
Er selbst wollte über den nicht abschließbaren Fall sprechen und die Wahrheitsfindung vor Gericht als notwendiges Konstrukt
interpretieren. Aber sein Vortrag war noch nicht ganz fertig. Er brauchte eigentlich noch drei, vier Tage Zeit und mußte vorher
noch den Zeitplan für die Prozesse des nächsten Halbjahres fertigstellen. Vorbereitet hatte er das. Und er hatte gehofft,
es am Vormittag abzuschließen.
Es war gegen vier Uhr morgens. Vielleicht konnte er noch ein wenig schlafen, bevor die Schmerzen wieder stärker wurden. Auf
dem Weg in sein Zimmer lauschte er einen Augenblick an Daniels Tür, die einen Spalt weit geöffnet war. Der Junge hatte in
diesem Jahr mehrere Asthmaanfälle gehabt. Jetzt schien alles in
Weitere Kostenlose Bücher