Der Liebeswunsch
unwahrscheinlich, daß er, auch
wenn er der geborene Betrüger war, so etwas mitgemacht hätte? War es vielleicht nur seine unheilvolle Erinnerung an Pauls
und Marlenes Verrat, die ihn auf diesen Gedanken brachte?
Das waren Fragen, die er sich nicht beantworten konnte. Noch weniger konnte er hoffen, sie wieder zu vergessen.Ahnte Marlene etwas? Oder wußte sie mehr als er? Sie hatte sich in Florida merkwürdig verhalten. War mehrfach mit ihm weggefahren
und hatte Paul und Anja allein gelassen. Wie sollte er das verstehen? Was hatte sie dazu bewogen? War es blindes Vertrauen
gewesen oder nur eine jener zufälligen Tatsächlichkeiten des Lebens, die sich jeder Interpretation entzogen, weil sie genausogut
anders hätten verlaufen können? Er konnte sich keinen Reim darauf machen, hatte es erst recht in Florida nicht gekonnt, sondern
sich einfach von Marlene mitziehen lassen, die in diesem gemeinsamen Urlaub im Unterschied zu sonst einen angespannten und
überaktiven Eindruck auf ihn gemacht hatte. Auch das war einer der Gründe für ihn gewesen, sich immer wieder für Stunden zurückzuziehen,
seinen Liegestuhl dicht am Spülsaum des Meeres aufzuschlagen, zu lesen oder aufs Meer zu blicken und im Wellenrauschen einzuschlafen.
Manchmal hatte ihn Marlene zum Essen gerufen. Anja und Paul waren nie gekommen, um ihn zu holen. Nur durch Marlene schien
er mit der Gruppe verbunden zu sein. Er mußte sich aber auch gestehen, daß es seinem Bedürfnis, allein zu sein, entgegengekommen
war. Hatte er die anderen nicht wahrnehmen wollen? Hatte er sich gegen sie abgeschirmt, um nicht sehen zu müssen, was sich
abspielte und mit wem er es zu tun hatte?
Das alles erschien ihm wie ein ironischer Beleg zu dem Vortrag, dessen Skript in seinem Gepäck lag. Er wollte darin etwas
ins Licht rücken, was ihn tief beunruhigte, daß nämlich die richterliche Wahrheitsfindung, trotz Indizien, Beweisen und Geständnissen,
immer Züge eines Konstruktes hatte, das der Rechtsgemeinschaft Schutz gegen die unendliche Auslegbarkeit des menschlichen
Lebens bot. Das war im Kernproblematisch, was anerkannt wurde im Freispruch eines Angeklagten, dessen vermutlicher Schuld unaustilgbare Restzweifel gegenüberstanden.
Das war ein Rechtsgrundsatz, für den man mangelnde Klarheit und fortbestehende Ungewißheit in Kauf nehmen mußte. Er teilte
aber nicht die weit verbreitete moderne Ansicht, daß dies eine Art von poetischem Zustand sei. Ein halb ernstes, halb spielerisches
Gespräch fiel ihm wieder ein, das sie in Florida geführt hatten. Ausgehend von der Unordnung in der Küche, die jeder von ihnen
nach Bedarf benutzte, hatten sie über das Chaos gesprochen, und Paul hatte definiert: Chaos sei der Zustand, in dem es gleich
wahrscheinlich sei, daß der Kamm in der Bürste oder in der Butter stecke. Das war eine witzige Definition gewesen. Aber für
ihn hatte sie etwas Abstoßendes gehabt. Er wollte nicht in einer so beliebigen Welt leben, in der alles gleich wahrscheinlich
und also ungewiß war. Er wollte nicht mit allem rechnen müssen, schon gar nicht damit, zweimal hintergangen zu werden von
seinem alten Freund.
Doch, er hatte begonnen, damit zu rechnen. Ja, sein Problem hieß Paul. Das hatte für ihn einen anderen Stellenwert als die
Schwierigkeiten, die er mit Anjas Labilität und ihren Launen und wechselnden Stimmungen hatte. Denn inzwischen wußte er, daß
sie nicht die richtige Frau für ihn war. Mit ihr mußte er leben wie mit einer chronischen Krankheit, die er unter Kontrolle
hatte. Er mußte nur verhindern, daß sie schlimmer wurde. Von Paul und Marlene erwartete er etwas anderes, seitdem sie ihre
Freundschaft neu beschworen und besiegelt hatten. Freundschaft bedeutete Verläßlichkeit. Vielleicht war der Glaube daran seine
letzte Illusion.
Die Schaffnerin kam und kontrollierte die Fahrkarten. Das jedenfalls war ein Stück Ordnung, das funktionierte. Erempfand es als eine wohltuende Unterbrechung seiner Gedanken und lächelte ihr zu, und sie gab ihm die Karte zurück und wünschte
ihm eine gute Reise. Das angenehme Gefühl, das diese kleine formelhafte Höflichkeit in ihm hinterließ, zeigte ihm, wie ausgehungert
er nach freundlichen Menschen war.
Um sich zu entspannen, blickte er aus dem Fenster. Der Zug fuhr seit einiger Zeit bergan durch ein waldiges Tal, in dem ihm,
mal in engen, mal in weiträumigen Schlingen, ein immer wieder vom Ufergebüsch verdeckter Bach entgegenkam, der
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