Der Liebeswunsch
denn ich habe erst herbeigeführt, was ich befürchtete
und entlarven wollte. Immer, wenn mir die Szenerie wieder vor Augen tritt – der weite, meistens menschenleere Strand und das
Haus, das mit den Panoramascheiben des ersten Stocks über die Düne blickt, über die eine meerwärts zur Aussichtskanzel erweiterte
Holzbrücke zum Strand hinunterführt, und dann die andere Seite des Hauses mit dem von Palmen und immergrünen Sträuchern umgebenen
Swimming-pool, in dem in meiner Erinnerung Anja in nixenhafter Geschmeidigkeit hin und her schwimmt oder sich auf dem Rücken
treiben läßt, während Leonhard irgendwo im Schatten sitzt und liest und Paul in seinem blau-roten Trainingsdreß aus dem Haus
tritt und sich am Rand des Bassins niederhockt, um Anja zu fragen, ob sie ihn beim Joggen begleiten will –, immer dann, wenn
ich mich selbst auf der Aussichtskanzel der Brücke zum Strand sitzen sehe, wo ich dem Flug der Pelikane zuschaue, die in langen
Formationen über die Brandung segeln, und dann in der Fernezwei kleine Gestalten erblicke, Paul und Anja, die von ihrem täglichen Strandlauf zurückkehren, und ihnen zuwinke, bilde ich
mir ein, wir seien damals glücklich gewesen oder hätten es jedenfalls sein können.
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10
Ein allmählich wachsender Verdacht
Dr. Leonhard Veith, Vorsitzender Richter am Landgericht, der viele spektakuläre Kriminalprozesse mit Übersicht und Einfühlung
geleitet hatte, war außerhalb seines Amtes ein Mensch ohne Menschenkenntnis. Sein Gefühl, man könnte auch sagen, das System
seines unbewußten Denkens, ließ ihn die katastrophalen Lebensgeschichten, die er in seinen Akten studierte und über die er
zu Gericht saß, als eine Welt für sich sehen, unvermischt mit seinem eigenen, alltäglichen Leben. Er hatte diese grundsätzliche
Unterscheidung nicht durchdacht, denn dann wäre sie ihm zweifellos unhaltbar erschienen. Doch weil er sie für seine Sicherheit
brauchte, versperrte er sich dem Gedanken, seine Freunde, Bekannten und vor allem seine Frau könnten im geheimen anders sein,
als es ihrer Rolle in seinem Leben entsprach. Nur durch Zufall und erst nach Monaten kam er dahinter, daß seine Frau ihn betrog.
Fast die ganze Nacht hatte er wegen starker Zahnschmerzen nicht schlafen können. An den Wurzeln eines Backenzahnes, der in
den vergangenen Tagen schon gelegentlich rumort hatte, mußte sich ein Abszeß gebildet haben, der durch die Bettwärme in Bewegung
geraten war. Aus einem klumpigen Druck war ein anhaltendes Bohren und Pochen geworden, und wenn er den Zahn versehentlich
mit derZunge berührte, spürte er einen Stich bis ins Innere des Ohrs.
Ruhig atmend hatte er eine Weile versucht, den Schmerz innerlich von sich fernzuhalten. Schließlich war er aufgestanden und
hatte im Badezimmer eine und dann gleich noch zwei Schmerztabletten im Zahnputzbecher aufgelöst und hinuntergespült. Vorsichtig
war er wieder ins Bett gestiegen und hatte seinen Kopf wie ein schwer nach hinten sinkendes Gewicht langsam auf das Kissen
gebettet. Allmählich hatte sich der Schmerz verdunkelt, und er war in einen dämmrigen Halbschlaf versunken, dumpf dahintreibend
am unscharf gewordenen Rand der Qual, im Inneren seines vernebelten Bewußtseins immer noch nach Schlaf verlangend, als er
plötzlich wieder wach war.
Er drückte die Lichttaste seines Weckers und sah den Sekundenzeiger über das schwach beleuchtete Zifferblatt kreisen, als
räume er unermüdlich eine unsichtbare Substanz weg, die sich immer wieder dort niederschlug. Es war halb vier. Der Schmerz
wühlte und nagte hinter dem Vorhang der Betäubung, und er wußte nicht, was ihn mutloser machte: die noch bevorstehenden Nachtstunden
oder der kommende Tag, an dem er den Prozeßplan für das nächste Halbjahr aufstellen mußte, eine Arbeit, die Übersicht und
Geduld verlangte und der er sich nicht gewachsen fühlte.
Um etwas zu tun, stand er wieder auf und kühlte im Badezimmer die heiße, geschwollene Wange mit einem Waschlappen, ging dann,
den feuchten Lappen behutsam gegen die schmerzende Stelle drückend, in die Küche und suchte in den Schränken vergeblich nach
Kamille, um sich einen Tee zu kochen. Anja konnte er deswegen nicht wecken. Vor einem dreiviertel Jahr, als sie krank gewesen
war, war sie aus dem gemeinsamen Schlafzimmer ausgezogen, um ihn nicht anzustecken, und bisher hatte keiner von ihnen den Vorschlag gemacht, wieder zusammenzuziehen.
Manchmal, wenn
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