Der Liebeswunsch
mit dem Handlauf aus glattem Kunststoff, den sie nicht
berühren mag. Sie hofft immer, daß ihr niemand begegnen wird, während sie die Treppe hochsteigt, aber es ist auch unheimlich,
daß es noch nie geschehen ist. Anscheinend ist das Haus tagsüber leer. Sie hat Paul nie gefragt, wie er an dieses kleine Apartment
gekommen ist und was er dafür bezahlt. Und schon deshalb ist ihr das Haus fremd geblieben. Aber es muß jemanden geben, der
ab und zu das Zimmer saubermacht und das Bett bezieht. Da sie immer zuerst kommt, trifft sie die wenigen Möbel und Gegenstände
stets in der gleichen unverrücktenOrdnung an und fühlt sich aus der Zeit hinausgeworfen, als wiederhole sich ständig derselbe Augenblick.
Wie eine Schlafwandlerin zieht sie sich aus und schlüpft unter die Bettdecke, birgt ihren Kopf in das Kissen, das sich dicht
vor ihren Augen zu einer Schneewehe aufwölbt und sie gegen das Zimmer abschirmt. Sie schließt die Augen, und in dem wohltuenden
Dunkel flauen auch die Straßengeräusche ab, bis auf die ferne Dünung des Verkehrs auf der Stadtautobahn.
Als Paul einige Zeit nach ihrer Rückkehr aus Florida dieses Apartment gemietet hatte, war die ständig drohende und immer wieder
zwischen ihnen beredete Notwendigkeit, Schluß zu machen und sich zu trennen, erst einmal beiseite geschoben, und sie hatte
angefangen zu hoffen, daß sich für sie beide die Tür zur Zukunft ein Stück weit geöffnet habe. Inzwischen weiß sie, daß sie
in ein Versteck verbannt worden ist. Abgeschnitten vom Leben und allen Belebungen, die die Liebe braucht, kommt sie her zu
dem einzigen Zweck, ein- oder zweimal mit Paul Sex zu machen und wieder auseinanderzugehen. Doch so eingeengt sie sich auch
fühlt, wartet sie auf ihn in der Angst, er würde nicht kommen, oder sie könne in der kurzen Zeit seinen Erwartungen nicht
entsprechen. Vor allem diese zweite Angst erfüllt sie, und sie verkriecht sich ins Bett, um sie einzuschläfern. Sie will für
ihn eine Frau ohne Vorgeschichte, ohne Vorurteile, ohne jeden störenden Gedanken sein. Tagelang hat sie sich nach dem Augenblick
gesehnt, wenn er zu ihr unter die Decke schlüpft und ihre Körper sich aneinander schmiegen. Jetzt spürt sie sein Erschauern,
aber in ihr ist noch ein Rest von Abwesenheit, den sie vor ihm verbergen muß. Er hat einen Arm unter ihren Kopf geschoben, und ihre Stirn liegt an seiner Wange. Sein freier Arm umfaßt sie, und seine Hand streichelt
ihren Rücken. Sie stellt sich seine festen Finger mit den kurzgeschnittenen Nägeln und den breiten, von blauen Adern durchzogenen
Handrücken vor, während sie ihren Kopf zurückbiegt und ihre Lippen auf seine Wange drückt. Es ist ein wenig rauh dort, und
sie schiebt ihren Mund an sein Ohr. So liegen sie jetzt still. Vermischt mit seinem Hautgeruch riecht sie den leichten Geruch
einer medizinischen Seife an seinen kräftigen, schwarz behaarten Unterarmen, der sie daran erinnert, daß er unmittelbar aus
dem Operationssaal zu ihr gekommen ist. Sie versucht, sich ihn vorzustellen – eine der dunkelgrün gekleideten Larvengestalten
unter der großen metallischen Lampe, die um einen geöffneten Leib versammelt sind. Wenn sie jetzt Zeit hätten, wenn er nicht
schon bald wieder fortmüßte, könnten sie reden. Sie könnte ihm von Leonhards mißtrauischem, verdeckten Verhör erzählen. Aber
besser, sie verschweigt es, denn es könnte Pauls Ängste wecken.
Meistens löst sie sich nach einiger Zeit aus seiner Umarmung und beugt sich über ihn. Langsam und nachdenklich, als weide
sie auf seiner Haut, beginnt sie sein Gesicht und seinen Hals zu küssen. Er läßt sich treiben, hält und stützt mit einem Arm
ihren warmen Leib, der sich an ihn drängt. Auf ihre Berührungen wartend, spürt er ihren Atem auf seinem Gesicht. Er weiß,
daß sie weiß, wie ihre zärtliche Heimsuchung ihn verwandelt. Aber noch verleugnet er das wachsende Drängen, denn er will,
daß sie ihn anfaßt, als fordere sie ihm ein Geständnis ab. Und er wird die warme, feuchte Mulde suchen, wo sie ihm das gleiche
Geständnis macht.
Sie kennt diese Spiele aus Frage und Antwort und ausgetauschten Unterschieden und Ähnlichkeiten, die zu einem gemeinsamen
Wissen verschmelzen: Ich nehme wahr, daß du mich wahrnimmst, und ich weiß du weißt wir wissen es. Sie erkennen sich in den
Wiederholungen und ebenso in den Veränderungen. Auf jedes Jetzt folgt ein weiteres Jetzt. Das macht sie blind für das
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