Der Liebeswunsch
vorgestellt, daß
ich diesen Satz von Dir hören würde. Es war für mich der am meisten verbotene Gedanke. Und nun hast Du es gesagt. Das stärkt
in mir das blinde Wissen, daß ich für Dich entstanden bin und außerhalb, fern von Dir, keine Bedeutung habe. Ich warte auf Dich wie auf eine Gefahr. Binde mich! Mein Körper will nichts als die unsichtbaren Fesseln, die
Du in der Hand hältst. Wo bist Du jetzt? Was tust Du? Wenn ich es mir vorzustellen versuche, kommen nur verschwommene Bilder
in meinen Kopf, nur ein einziges ist deutlich: Das Geheimbild Deines Körpers, nach dem ich mich sehne. Liebster, ich schicke
Dir meine Küsse, alle, die Du magst.«
Noch nie in ihrem Leben hat sie einen solchen Brief geschrieben. Zum ersten Mal hat sie sagen können, was sie denkt und fühlt.
Und Paul würde es lesen und es auch wissen. Nun mußte sie noch den Mut haben, den Brief abzuschicken. Sie wollte ihn an Pauls
Klinik adressieren und ihn morgen früh in den Kasten werfen. Irgend etwas würde der Brief auslösen, irgend etwas würde in
Bewegung geraten.
Paul verbrachte den Abend in einer Runde von Marlenes Kollegen, in die er zufällig hineingeraten war. Sie hatten in dem Restaurant,
in dem er ungestört zu Abend essen wollte, einen Tisch für eine kleine kollegiale Feier reservieren lassen und gerade festgestellt,
daß ein Platz frei geblieben war, als er das Lokal betrat. Er sah sie zuerst nur als eine lebhafte, ein wenig zu laute Gruppe
im Hintergrund des Raumes und blickte sich nach einem Tisch in einem anderen Teil des Lokals um, als sie ihn erkannten und
heranwinkten, und einer, ein Oberarzt aus der Chirurgie, den er noch aus der Zeit kannte, als sie beide Assistenzärzte waren,
stand auf und kam auf ihn zu:
»Hallo Paul, das trifft sich ja gut! Wo kommst du her? Suchst du Marlene?«
»Marlene hat heute Nachtdienst«, sagte er.
»Aha, und du treibst dich herum. Das gefällt mir. Nein, im Ernst, wir haben ganz übersehen, daß Marlene Nachtdienst hat. Jetzt
haben wir einen Platz frei. Den kannst du an ihrer Stelle würdig besetzen. Es ist eine kleine gemütliche Zusammenkunft unter
Kollegen.«
»Feiert ihr etwas?«
»Der Kollege Wollitz geht nach Marburg an die Uniklinik auf eine Chefarztstelle. Wir feiern das nicht gerade. Aber er fällt
die Treppe rauf.«
»Du, ich wollte eigentlich nur eine Kleinigkeit essen, Rainer«, sagte Paul.
Der Vorname war ihm gerade eingefallen, und er nahm die Chance wahr, ihn schnell einmal zu gebrauchen, um in den vertrauten,
freundschaftlichen Ton einzustimmen, in dem der Kollege mit ihm redete. Der nahm seinen Einspruch als halbe Kapitulation und
fegte ihn beiseite.
»Essen und trinken kannst du auch mit uns.«
Er hatte den Abend allein verbringen wollen, um über sich und Anja nachzudenken. Er hatte sich in ihr und in sich selbst verschätzt.
Zwischen ihnen war eine Leidenschaft ausgebrochen, die sich vielleicht nicht mehr begrenzen ließ. Als er das Apartment mietete,
hatte er das noch geglaubt oder sich eingeredet, weil er sich nicht lösen konnte. Er hätte Schluß machen müssen und hatte
sich statt dessen in eine Falle manövriert. Das trug er seit einiger Zeit als ein unbewegliches Wissen mit sich herum. Doch
wenn er wie jetzt von Anja kam, fühlte er sich wieder berauscht von der alle Bedenken zerstäubenden Ausschließlichkeit, mit
der sie sich umarmt hatten. Niemand weiß, woher ich komme, dachte er, als er an den Tisch der alten Kollegen trat, die ihn
lebhaft begrüßten und in ihre Runde aufnahmen.
Er erhielt einen Platz neben Sibylle, die sich offensichtlich freute, ihn zu sehen. Sie war die Anästhesistin, mit der er
früher, als er am selben Krankenhaus war, viel zusammengearbeitet hatte, eine hübsche, schlanke, blonde Frau aus Hamburg,
fast so groß wie er, deren Ausstrahlung er, so animiert wie er sich fühlte, sofort empfand. Er hatte einmal während eines
Ärztekongresses mit ihr geschlafen. Daran wollte sie ihn anscheinend gleich erinnern, denn als er sie zur Begrüßung auf die
Wange küßte, sagte sie: »Warum so förmlich?«, und hielt ihm ihren Mund zu einem richtigen Kuß hin. »Du siehst fabelhaft aus«,
sagte sie, als sie sich gesetzt hatten. Und er antwortete aus Überzeugung: »Du aber auch. Wirklich, du siehst großartig aus.
So elegant wie immer und noch schöner.«
»Danke. Ich will's dir mal glauben«, sagte sie.
Ja, sie war eine elegante Frau. Der platinfarbene Hosenanzug sah
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