Der Liebeswunsch
Ende,
und das ist es, was sie jetzt wollen.
Diesmal will er, daß sie auf dem Rücken liegt, denn er möchte die Verwandlungen ihres Gesichtes sehen, die Wetterfronten der
Lust, die darüber hinziehen, während sie ihre Augen geschlossen hält. Es ist ein Widerspruch, den er nicht auflösen kann,
daß sie ganz in sich zurückgezogen scheint und doch bis in jede Pore ihrer Haut für ihn geöffnet ist. Er liest in diesem Gesicht
eine fremde Botschaft über ihr verborgenes Leben, und in diesem Augenblick liebt er sie. Als habe sie es gespürt, öffnet sie
kurz die Augen und schaut ihn an. Ja, sie sind da, beide, bevor sie wieder in ihr Dunkel gleiten. Nein, wir haben keine Zukunft,
hat er noch gedacht. Für Augenblicke ist sie weit weg von ihm und sich selbst und hört das Stöhnen des Mannes, der sich in
ihr bewegt, als kämpfe er sich unter Qualen einem fernen Ziel entgegen und stemme sich zugleich dagegen an. Manchmal scheint
er sie strafen zu wollen für die Auflösung, der er entgegentreibt. Aber sie zieht ihn dichter an sich heran, und neue Wellen
der Lust reißen sie gemeinsam fort. Und nun fällt alles von ihnen ab: die Ängste, die Selbstbehauptung, alles, was sie an
die äußere Welt gefesselt hat. Aneinander geklammert, ineinander verschränkt, den Atem des anderen atmend, treiben sie unaufhaltsam
weiter, bis ein jäh sich öffnendes, verschwenderisches Jetzt sie durchströmt und zu einer dunklen Einheit verschmilzt. Sekunden später – aber es ist in einer anderen Zeit – tauchen sie auf, eng umschlungen, doch
jeder wieder für sich, zwei Menschen, die sich behutsam voneinander lösen.
»O Gott, das war gut«, sagt er.
Sie sagt nichts, will nur so bleiben. Ein friedvolles, sanftes Gefühl erfüllt sie, als setze sie sich aus einer Wolke von
Schwebeteilchen langsam wieder zusammen. Sie streckt die Hand nach ihm aus, berührt seinen Arm. Ja, er ist da, gleich neben
ihr. Das ist alles, was sie braucht.
Eine halbe Stunde später – sie liegen jetzt vertraut beieinander: ihr Kopf auf seinem Arm – schaut er unauffällig auf seine
Uhr.
»Mußt du gehen?« fragt sie.
»Ja, gleich«, sagt er.
Als sie bald danach gemeinsam aus dem Haus treten in das gelbliche Licht des späten Nachmittags, hat sich die Straße noch
mehr belebt – ein Menschengedränge, dicht genug, sie unauffällig aufzunehmen. Sie haben sich zum Abschied im Zimmer geküßt,
bevor sie, ohne noch etwas zu sagen, hintereinander die enge Treppe hinuntergestiegen sind. Unten auf der Straße tauschen
sie nur noch einen kurzen Kuß und gehen dann in verschiedenen Richtungen auseinander.
Anja wird zu Hause von Leonhard mit der Nachricht empfangen, daß Daniel mit Halsschmerzen und leichtem Fieber im Bett liege.
Das hat ja schon mittags angefangen, sagt er. Es hört sich wie eine unausdrückliche Kritik daran an, daß sie trotzdem in die
Stadt gefahren ist.
»Hast du den Arzt gerufen?« fragt sie.
»Nein, ich glaube, das ist nicht nötig. Ich habe ihm was zum Gurgeln gegeben und ihn ins Bett geschickt.«
»Gut, ich schau ihn mir an«, sagt sie. »Vielleicht gebe ich ihm über Nacht ein halbes Aspirin.«
»Nun, was macht mein Schatz«, sagt sie, als sie in Daniels Zimmer tritt.
Er antwortet mit schwacher Stimme, und seine Stirn fühlt sich heiß an, aber als sie mißt, ist das Fieber nicht besonders hoch.
Während sie das Aspirin auflöst und mit Apfelsaft mischt, schweifen ihre Gedanken ab, kehren zurück zu dem Nachmittag und
den Erinnerungen, die in ihrem Körper nachglühen. Es ist ein schwindender Vorrat von Glück, den sie so lange wie möglich bewahren
muß, um davon zu leben. Schon jetzt rinnt alles fort wie der Sand in einer Eieruhr. Nach dem kleinen imbißartigen Abendessen
mit Leonhard, der sich auf seinen nächsten Prozeß vorbereiten muß und wieder zu seinen Akten zurückkehrt, geht sie in ihr
Zimmer und beginnt an Paul zu schreiben. Es ist nur Ersatz, aber eine Möglichkeit, mit ihm zu leben, wenn er nicht da ist.
Sie schreibt, als habe sie ein Strom erfaßt, der lange versperrt war. Ihre Hand fliegt über das Blatt.
»Liebster, ich bin wieder allein in meinem Zimmer. Deine Worte und Deine Zärtlichkeiten sind noch dabei, sich einen Weg in
mir zu bahnen. Du hast mich begehrt, weil ich Dir ähnlich bin. Du irrst Dich nicht! Alles, was Du suchst, wirst Du in mir
finden. Hör deshalb nie auf, immer mehr von mir zu fordern. Ich brauche Dich, sagtest Du. Ich habe mir nie
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