Der Liebeswunsch
von Trennungen, behauptete er. In der Alltäglichkeit der Ehe erlösche sie. Das war leichthin gesagt, in
Augenblicken des Überschwangs. Aber sobald sie sich verabschiedet hatten, riß der Kontakt. Weder zu Hause noch in der Klinik
konnte sie ihn erreichen, und von Tag zu Tag nahm der Druck zu, dem sie sich zu Hause ausgesetzt fühlte. Manchmal konnte sie
das nur aushalten, wenn sie sich betrank.
Sie kämpfte dagegen an, weil sie glaubte, es Paul schuldig zu sein. Aber auch weil Leonhard, der häufig zu Hause arbeitete,
sie mißtrauisch beobachtete, seit er sie durch Zufall erwischt hatte, als sie in den Morgenstunden nach Hause gekommen war.
Damals hatte er ihre Erklärungen akzeptiert, weil er abgelenkt war durch seine Zahnschmerzen und eine bevorstehende Reise
zur Richterakademie, wo er einen Vortrag halten mußte. Seitdem war er verändert. Und sie wußte, daß sie sich keine weitere
Blöße geben durfte, um nicht alles aufs Spiel zu setzen.
Wenn sie trank, tat sie es in ihrem Zimmer. Sie schüttete ein Glas nach dem anderen hinunter, bevor sie sich benebeltschlafen legte. Am nächsten Morgen ließ sie die Flasche im Mülleimer verschwinden. Stets waren es Weinflaschen aus dem Supermarkt
und nicht aus den Regalen im häuslichen Weinkeller, die Leonhard vermutlich kontrollierte. Vielleicht hatte er im Mülleimer
eine ihrer Flaschen gesehen, denn eines Tages trat er ihr auf der Treppe entgegen, als sie sich mit einer Flasche Rotwein
in ihr Zimmer zurückziehen wollte.
»Was willst du mit der Flasche?« fragte er.
»Was schon?« sagte sie. »Ich brauche einen Schlaftrunk.«
»Dann kannst du ja mit mir zusammen ein Glas trinken.«
»Entschuldigung. Ich bin nicht in der Stimmung, um zu reden. Ich möchte gleich ins Bett.«
»Gut, wie du willst. Aber gib mir die Flasche.«
Er streckte die Hand aus. Als wiche sie einem Angriff aus, zog sie die Flasche dicht an ihren Körper heran.
»Gib mir jetzt die Flasche!« sagte er scharf.
Eiseskälte und Wut stiegen in ihr hoch, und sie konnte sich gerade noch zurückhalten, ihn anzuschreien: »Du bist doch der
Grund, weshalb ich trinke! Du allein!«
Wortlos gab sie ihm die Flasche und drängte sich an ihm vorbei in ihr Zimmer, schloß hinter sich ab. Das hatte er sicher noch
gehört, bevor er hinunterging und die Flasche wegtrug, die sie jetzt nur noch dringender brauchte. Wenn er schlief, konnte
sie vielleicht in den Keller schleichen und eine Flasche aus den Regalen entwenden. Aber das würde noch stundenlang dauern.
Jetzt jedenfalls saß er unten und bewachte die Treppe. Es war lächerlich und entwürdigend. Aber was konnte sie tun? Sie schaute
sich um und biß sich auf die Fingerknöchel. Sie war seine Gefangene. Sie konnte nicht einmal in Daniels Zimmer gehen, um sich
eine Weilean sein Bett zu setzen und sich dabei zu beruhigen. Nein, sie durfte das auch nicht tun. Sie war viel zu gespannt und zerrissen.
Das spürte Daniel. Und es verwirrte ihn. Mehr und mehr sperrte er sich, wenn sie ihn mit ihren Zärtlichkeiten überfiel. Auch
das war alles längst verkehrt. Und nun mußte sie damit rechnen, daß Leonhard seine Überwachung verschärfte und sie hindern
würde, Paul zu sehen. Dann allerdings kann ich nicht mehr leben, dachte sie. Was tun? Das einzige, was ihr jetzt helfen konnte,
war wegzulaufen und sich in Pauls Arme zu werfen. Aber sie wußte, daß er sich zurückziehen würde, wenn sie sich nicht an die
Regeln hielt.
Es klopfte.
Leonhard stand vor der Tür und sagte: »Komm bitte für eine halbe Stunde herunter, Anja.«
»Wozu?« fragte sie.
»Darüber will ich mit dir reden.«
Seine Stimme war wieder ruhig geworden. Es war die Stimme, mit der er seine Verhandlungen führte.
»Ich komme gleich«, sagte sie.
Sie hörte ihn die Treppe hinuntergehen mit seinen schwerfälligen, vorsichtigen Schritten. Sie mußte warten, bis ihr Herzschlag
ruhiger wurde, bevor sie hinunterging.
Er saß dort, hatte zwei Gläser auf den Tisch gestellt und die Flasche entkorkt. Es war ein Friedensangebot, das er ihr machte,
aber auch Zurschaustellung seiner Macht. Bereit, gleich wieder aufzustehen, setzte sie sich ihm gegenüber.
»Ich war etwas autoritär vorhin«, sagte er. »Entschuldige.«
Sie antwortete nicht, sah ihn abwartend an. Er kam ihr so banal vor, so vollkommen berechenbar, wie ein Fahrzeug auf Schienen.
Und sie spürte, daß sie es nicht ertragen könnte, wenn er jetzt sagte: »Ich wollte nur dein
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