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Der Lilienring

Titel: Der Lilienring Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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Sieck legen ab und zu englische Schiffe an. Einige der Kapitäne haben schon Ware von Ihrem Gatten transportiert.«
    »Schmuggler.«
    Der Verwalter zuckte mit den Schultern.
    »Manch Adliger ist mit ihrer Hilfe dem Schafott entronnen. Gebt dem Mädchen etwas Geld mit. Aber lasst sie noch heute aufbrechen. Die Zeit drängt.«
    So kam es, dass Marie-Anna als schlichtes Bauernmädchen verkleidet neben einer schweigsamen, hageren Frau mittleren Alters bei Anbruch der Dunkelheit das Chateau Kerjean verließ. Beide trugen Bündel mit Kleidern und darin versteckt, in Säume und Taschen eingenäht, einige Goldmünzen.
    Den Weg zur Küste kannte Marie-Anna. Oft genug war sie ihn früher mit ihrem Vater entlanggeritten, um einen Tag am Meer zu verbringen. Als sie noch sehr klein war, hatte er sie auf den Sattel vor sich gesetzt, später war sie dann auf dem Pony geritten. Als sie alt genug war, hatte er ihr eine brave Stute geschenkt, die sie mit Begeisterung geritten hatte. Es waren glückliche Zeiten, die sie hinter sich ließ für eine ungewisse Zukunft, die eine ungewisse Sicherheit bot. Sehr ungewiss, denn der Gefahr waren sie noch nicht entronnen.
    Es war eine stürmische Nacht. Je näher sie dem Meer kamen, desto heftiger zerrte der Wind an ihren Kleidern und Hauben. Er heulte zwischen den Felsbrocken,
die überall wie von Riesenhänden hingeworfen aus den Feldern ragten, er peitschte die Hecken am Wegesrand und trug den Geruch von salziger Gischt herbei. Gegen Mitternacht waren sie durchgefroren und erschöpft. Dankbar nahmen sie Unterschlupf in einer baufälligen Scheune.
    Im Morgengrauen wanderten sie weiter, umgingen das kleine Fischerdörfchen Plouescat, beschritten unebene Feldwege und vermieden vor allem den schmalen Küstenpfad, auf dem die Zöllner patrouillierten. Um die Mittagszeit erreichten sie hungrig und mit schmerzenden Füßen das winzige Dörfchen Dossen. Es herrschte Flut, und als sie an dem kleinen Hafen standen, trennte eine graue Wasserfläche das vorgelagerte Inselchen vom Festland.
    »Wir müssen dort hinüber, Sophy.«
    »Es wird bei Ebbe wohl möglich sein. Wir wollen hier in den Dünen warten, bis das Wasser abgelaufen ist. Komm, ich habe noch ein Brot und zwei Äpfel für uns.«
    Die mit graugrünem, scharfhalmigem Gras bewachsene Düne schützte die beiden ein wenig vor dem kalten Wind, und langsam verzehrten sie die letzten Vorräte. Marie-Anna sah zu der Insel hinüber. Sie war nicht groß, nur zwei Häuser standen auf ihr. Sie waren, wie alle hierzulande, aus Feldsteinen gemauert. Die Dächer hatte man mit grauem Schiefer gedeckt, rechts und links ragten jeweils die Kamine auf, einer davon sicher in der Küche, der andere in der Stube. Auf der linken Seite der Insel hatte sich eine kleine, natürliche Mole gebildet, in deren Schutz zwei Fischerboote dümpelten. Auf der Insel selbst wuchs Getreide, wie es schien.
    Eine Schar Möwen, weiß und grau, schoss im Wind über das Wasser hin, und ihre Schreie klangen wie raues Gelächter. Marie-Anna schauderte. Was mochte in Kerjean geschehen sein? Waren die Soldaten schon gekommen?
Würden sie plündern, das Haus in Brand setzen, die Gärten zertrampeln?
    »Marie-Anna, hör auf zu grübeln. Es hilft dir jetzt nichts.«
    Sophy hatte dem Mädchen den Arm um die schmale Schulter gelegt. Sie hatte tiefes Mitgefühl für das Kind, dessen Welt von einem Tag auf den anderen zerstört worden war. Doch sie achtete die Kleine auch, die ohne Klagen tat, was notwendig war.
    »Wann wird ein Schiff kommen, Sophy?«
    »Wir werden es erfahren, wenn wir dort drüben sind. Ich bin mir sicher, die Leute, die dort wohnen, wissen eine ganze Menge. Und ich vermute auch, wir sind nicht die Ersten, die eine derartige Frage stellen.«
    »Das Wasser sinkt.«
    »Ja, kleine Annik, das Wasser sinkt. Nur noch kurze Zeit, und wir können trockenen Fußes hinübergehen.«
    Bald darauf standen sie auf, schüttelten sich den Sand aus den Röcken und wanderten über das Watt in Richtung Insel. Als sie sich auf halbem Weg befanden, riss der grau bewölkte Himmel plötzlich auf und ein Sonnenstrahl fiel auf den feuchten, festen Sand. Staunend blieb Marie-Anna stehen und starrte auf die verwandelte Welt. Strahlend weiß wölbte sich der Halbmond der Bucht hinter ihnen, um sie herum glitzerte das Wasser in den verbliebenen Pfützchen und Prielen im Watt. Vor ihnen schimmerten blauschwarz die Schieferdächer der Häuser, und rosa, blau und violett leuchteten die Hortensienblüten vor

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