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Der Lilienring

Titel: Der Lilienring Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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den grauen Mauern. Vom First des ersten Hauses erhob sich mit lautem Krächzen ein Rabe, flatterte auf und glitt mit ausgebreiteten Flügeln über Marie-Anna hin.
    »Wie schön die Insel ist!«
    »Annik?«
    »Siehst du es nicht, Sophy? Sie ist schön, und sie wird
uns Schutz und Hilfe bieten. Der Rabe hat es mir gesagt.«
    »Mädchen, rede kein dummes Zeug. Raben sprechen nicht. Und nun komm, wir wollen schauen, ob wir dort jemanden um Rat fragen können.«
    Gehorsam setzte sich Marie-Anna wieder in Bewegung, aber ihr verstörtes Gesicht, das sie seit ihrem Fortgang von Kerjean getragen hatte, war weicher geworden, und dafür war sogar die nüchterne englische Nanny dem Raben dankbar.
    Marie-Annas Instinkt hatte sie nicht getrogen. Die Bauersleute und die Fischerfamilie, die auf der Insel wohnten, nahmen sie gastfreundlich auf. Der Fischer erinnerte sich an Brior le Noir, und er wusste auch, dass er als Rebell gesucht wurde. Er gab ihnen eine kleine Kammer, und seine Frau bewirtete sie mit gebratenem Fisch, weißem Brot und gezuckertem Butterkuchen.
    Zwei Nächte später saßen Sophy und Marie-Anna eng aneinander gedrängt in einer auf den sturmgepeitschten Wogen hüpfenden Schaluppe und überquerten den Kanal.

Gegenwart

5. Kapitel
    Zeugnisse der Vergangenheit
    »Hat Marie-Anna das so aufgeschrieben?«, fragte Rose. »Ich meine, gibt es diese Chouans, dieses Schloss und die Insel, oder hast du das erfunden?«
    Ich zog die Karte aus dem Stapel Unterlagen, die ich bereits herausgesucht hatte.
    »Über die Chouans und ihre Niederlage 1795 auf der Quiberon kannst du in den Geschichtsbüchern nachschlagen und in diesem Zeitungsartikel lesen. Kerjean ist ein häufiger Ortsname in der Bretagne, aber es gibt wirklich ein Chateau Kerjean in der Nähe von Plouescat. Der Tourismusverein hat mir ein aktuelles Faltblatt geschickt. Schau, so sieht es heute aus.« Ich legte den Prospekt mit den Fotos eines grauen Schlosses inmitten grüner Wiesen und Alleen auf den Tisch. »Und Marie-Anna erwähnt in ihren Aufzeichnungen die Ile de Sieck. Die hier liegt.« Ich deutete auf der Landkarte auf den Zipfel Land, der etwa fünfundzwanzig Kilometer von Kerjean entfernt lag. »Und daher vermute ich mal, die Geschichte hat sich wirklich in der Gegend so abgespielt. Was ich nicht weiß, Cilly, ist, ob der Rabe tatsächlich in diesem Moment aufgeflogen ist«, fügte ich lächelnd hinzu. »Das war meine Zutat zum Geschehen.«
    »Und die Marie-Anna ist wirklich nach England geflohen?«
    »Ja, Cilly, das ist sie. Dort hat sie die nächsten acht Jahre in dem Haushalt von Sir Garret gelebt. Hier gibt es einen Brief, den sie an ihre Mutter geschrieben, aber nicht abgeschickt hat, wahrscheinlich weil sie deren
Aufenthaltsort nicht kannte. Sophy hat als Gouvernante bei Sir Garret gearbeitet und dabei auch Marie-Anna unterrichtet. Das Mädchen scheint ziemlich bald eigene Aufgaben übernommen zu haben, denn es gibt ein Arbeitszeugnis und ein Empfehlungsschreiben an einen Franzosen, der eine Englisch sprechende Lehrerin für seine Kinder wünschte. Bei ihm ist sie mit neunzehn in Stellung gegangen, als er als Munizipalbeamter nach Köln versetzt wurde. Durch ihn kam sie hierher.«
    »Und dann?«
    »Mehr habe ich noch nicht ausgewertet, Cilly. Aber was hältst du davon, wenn du dich zusammen mit Rose mal über diese Zeitungsausschnitte, Flugblätter und Karikaturen hermachst? Ich vermute, sie beziehen sich auf Marie-Annas Leben in der Stadt. Ein bisschen Übersetzungsarbeit wird dir nicht schaden.«
    »Gib her, du hast mich neugierig gemacht.«
    Ich händigte Cilly die vergilbten, brüchigen Blätter aus, die ich vorsichtig in Folientaschen geschoben hatte.
    »Mach besser Kopien davon, wenn du damit arbeiten willst.«
    »Gleich morgen.«
    Rose hatte die ganze Zeit Kringel auf ein Blatt Papier gemalt und sah nachdenklich aus. Sie nahm schließlich das Tagebuch und schlug die letzte Seite auf.
    »Das beginnt Ende Februar 1810 und endet Ostern im selben Jahr, wie es scheint, mitten im Satz.«
    »Ja, das ist mir ebenfalls aufgefallen.«
    »Sie wird weitergeschrieben haben, nicht wahr?«
    »Das ist stark anzunehmen.«
    »Anita, diese Ururgroßmutter von Julian, die hieß doch Graciella Coloman. Diese Frau, die den Siegelring angeblich immer an das älteste Kind vererbt hat, muss also wohl verheiratet gewesen sein. Wäre es nicht möglich,
dass sie die Graciella Raabe ist, die in dem ersten Eintrag genannt wird?«
    »Der Gedanke ist mir natürlich auch schon

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