Der Lilienring
gekommen. Es macht Sinn, denn wie sollte dieses Tagebuch ansonsten in Julians Hände gelangt sein? Ich wollte ja ein wenig Ahnenforschung betreiben. Jetzt werde ich mir also mal die Finger staubig machen und alte Unterlagen wälzen. Montag fahre ich zu Uschi und schaue, ob ich in Julians Ordnern oder Kisten etwas finde. Ich hoffe nur, sie hat nicht alles ausgemistet und weggeworfen.«
»Warum erst Montag?«
»Weil, meine Lieben, Uschi am Sonntag nach Malta fliegt und ich keine große Lust habe, ihr mit diesem Ansinnen unter die Augen zu treten. Sie ist bei allem, was Julian anbelangt, äußerst empfindlich. Und auf mich ist sie nicht gut zu sprechen.«
Meine Mutter hatte mir meine Freundschaft mit Rose ungeheuer übel genommen. Sie sah in der Mutter meiner Halbschwester, Sophia, nach wie vor eine Rivalin und betrachtete Rose als Wesen, das ihr einen Teil von Julians Aufmerksamkeit und Liebe gestohlen hatte. Ihre Eifersucht war überzogen, ihre Reaktionen irrational und heftig. Eine Zeit lang hatte ich Geduld mit ihr gehabt, den Schock wegen des plötzlichen Todes als Entschuldigung für ihre absurden Giftspritzereien genommen, aber da sich ihre Wut nicht legte, sondern sich jetzt zusätzlich gegen mich richtete, hatte ich es vorgezogen, den Kontakt so weit wie möglich einzuschränken.
»Kommst du denn ins Haus, wenn sie in Urlaub ist?«, fragte Rose.
»Erstens ist vermutlich Tilly, die Haushälterin, da, und zweitens habe ich einen Schlüssel.«
Bis vor einem halben Jahr hatte ich selbst noch in dem Haus gewohnt, ein Zustand, der meiner Genesung von
den umfänglichen Brandwunden und meinen psychischen Traumata nach der Flugzeugexplosion nicht sonderlich förderlich war.
»Wenn sie nicht da ist, könnten wir dich ja begleiten«, schlug Cilly vor.
»Besser nicht. Ich möchte jeden Verdacht vermeiden, mit eurer Gegenwart ihr Heim beschmutzt zu haben. Ihr wisst doch, wie sie ist.«
»Sie hat Recht, Cilly. Außerdem, was nützen wir da schon? Wenn jemand weiß, wo diese Unterlagen zu suchen sind, dann Anita. Wonach willst du Ausschau halten?«
»Julian hat vor Zeiten einmal von einem Familienstammbaum gesprochen, den er anlegen wollte. Daran erinnere ich mich noch gut. Er hatte damals von irgendeiner seiner Tanten einen Haufen Urkunden geerbt.«
»Was wäre mit einer Familienbibel?«
»Ja, ein guter Tipp. Wenn es so etwas gibt.«
»Briefe, Familienanzeigen, Fotoalben...«
»Und nicht zu vergessen – Tagebücher.«
»Richtig, die Tagebücher, Anita. Hör mal, wenn diese Graciella wahrhaftig die Tochter dieses Valerian Raabe ist, dann ist der mit uns verwandt. Ob Julian ihn als Vorbild für den Titus Valerius Corvus und den Hrabanus aus dem Haus ›Zum Raben‹ genommen hat?«
»Möglich, Rose. Aber wenn Julian uns mit den beiden vorherigen Erzählungen auf die Familiengeschichte hinführen wollte, dann hat er einen zwar sehr unterhaltsamen, aber auch äußerst verschlungenen Weg gewählt.«
»Und es erklärt noch nicht, wieso ein Valerius Corvin, ein Falko Roman und ein Marc Britten in unserer Gegenwart eine Rolle spielen.«
Wie immer, wenn Cilly solche Bemerkungen machte, schlich sich ein leiser Schauder über meinen Rücken.
»Hast du eigentlich von deinem Falko inzwischen etwas
gehört?«, fragte ich meine Schwester, um mich abzulenken.
»Seit du mir erzählt hast, es sei besser, keinen Kontakt aufzunehmen, bis sich seine Scheidung erledigt hat, habe ich mich großer Zurückhaltung befleißigt. So groß, dass ich inzwischen nicht einmal mehr weiß, wie er richtig aussieht. Vielleicht ist das auch gut so, Anita. Es war ja doch nur ein heftiger Flirt. Und das dazu an Karneval.«
»Du könntest über Valerius herausfinden, wie es um seine Angelegenheiten steht«, meinte Cilly nachdenklich. »Ein Grund, ihn anzurufen. Den Valerius, meine ich.«
»Ich werde ihn nicht anrufen, Cilly. Aus keinem wie auch immer gearteten Grund.«
»Ob ich das wohl verstehe, wenn ich größer bin?«
»Wahrscheinlich.«
Ich stand auf, um in die Küche zu gehen. Marie-Annas Flucht aus der Bretagne hatte mich hungrig gemacht, und Rose schlich hinterher, um neugierig in den Kühlschrank zu spähen. Cilly blieb im Wohnzimmer und studierte die alten Zeitungsausschnitte. Sie war enttäuscht von mir, vermutete ich.
»Was hältst du von Pellkartoffeln mit Kräuterquark?«
»Ziemlich viel. Hier sind Frühlingszwiebeln und Radieschen. Mach du den Quark an, ich kümmere mich um die Kartoffeln. Das überfordert mich und meine
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