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Der Lilienring

Titel: Der Lilienring Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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Kind gerne darin geblättert und mir die bunten Bilder angesehen. Szenen aus der Bibel und den Heiligenlegenden waren es, und manchmal hat sie mir die Geschichten dazu erzählt. Die von Maria und ihrer Mutter Anna habe ich besonders gerne gehört.«
    »Das kann ich mir denken.«
    »Dieses Bild hier scheint auf die badende Batseba zu deuten«, meinte Marie-Anna nachdenklich und betrachtete die Abbildung einer jungen Frau in einem Badezuber, die lediglich mit ihren langen, schwarzen Haaren ihre Blöße bedeckte. Ein schwarzbärtiger Mann stand in der Tür und beobachtete sie.
    »Mich erinnert es an gewisse badende Rheintöchter.«
    »Das wollten wir doch vergessen haben, Monsieur. Oder nicht?«
    »Nein, vor allem die eine, die sich so stolz umdrehte und mich ansah, kann ich nicht vergessen. Sie war allerdings blond...«
    »Ich kann mich nur entsinnen, dass da ein Besucher sich mit Entsetzen abwandte.«
    »Hätte ich länger hingeschaut, hätte die blonde Rheintochter ein schreckliches Schicksal ereilt!«
    Edwin durchquerte den Raum und verhinderte weitere Reminiszenzen an die sommerlichen Ereignisse.
    »Was bedeutet der Spruch darunter, Valerian? Ich kann diese Schrift nicht sehr gut entziffern.«

    »Ein Vers aus den Psalmen. ›Herr, du bist mein Gott, dich suche ich. Meine Seele dürstet nach dir, mein Leib schmachtet nach dir wie dürres, lechzendes Land ohne Wasser.‹«
    »Mh. Also, na ja. Valerian – das hört sich in diesem Zusammenhang nicht sehr fromm an.«
    »Nein, mein Herz, der Gedanke beschlich mich genauso. Ich fand diese Seite ebenfalls eigentümlich. Schau!«
    Es war eine Hochzeitsszene, eine reich gedeckte Tafel, vornehm gekleidete Gäste saßen an ihr, und Spielleute trugen zur Unterhaltung bei. Doch Braut und Bräutigam schauten voneinander weg, sie sehnsüchtig aus dem offenen Fenster, er interessiert auf einen Gelehrten neben sich.
    »Seltsame Hochzeit.«
    »Ja, seltsam. Aber dieser schwarzbärtige Mann taucht wieder auf. Ihn finden wir ein drittes Mal, und hier wird das Buch wirklich kurios. Die Schreiberin hat nämlich die Gebetsstunden den Planetengöttern gewidmet, und hier haben wir Jupiter zur Sext. ›Zu dir redet mein Herz, nach dir sucht mein Gesicht, nach deinem Antlitz suche ich, o Herr.‹ Das bedeutet der Spruch darunter.«
    »Das gilt in den Psalmen wohl nicht Jupiter. Hat die Schreiberin dieses Buches das vielleicht auf eine bestimmte Person bezogen? Ich erinnere mich, dass das Buch meiner Mutter von einem Grafen in Auftrag gegeben worden war. Von ihm gab es ein Bild auf den ersten Seiten.«
    »Das Stifterbild. So etwas Ähnliches haben wir hier auch, doch es ist wahrhaft das seltsamste dieser Art. Schau dir das an!«
    Es war ein blauschwarzer Rabe mit ausgebreiteten Flügeln, der auf einem Eichenast saß. Auf den feinen, rot punktierten Linien waren sorgfältig die Worte aus dem
einundneunzigsten Psalm geschrieben: »Mit seinen Fittichen schirmt er mich, unter seinen Flügeln finde ich Zuflucht, Schild und Schutz ist seine Treue.«
    »Das muss sich auf den Auftraggeber bezogen haben, Valerian. Wer war er? Kann man das herausfinden?«
    »Es steht nach der Praefatio. Sie widmet es einem gewissen Hrabanus Valens. Doch ich glaube nicht, dass er der Stifter war. Es scheint, dass sie das Stundenbuch aus eigenem Antrieb gefertigt hat.«
    »Wer war die Künstlerin?«
    »Anna di Nezza, Stiftsschreiberin zu Sankt Maria im Kapitol.«
    »Aber warum einem Raben gewidmet?«
    »Hrabanus ist das alte deutsche Wort für Rabe.«
    Marie-Anna wollte nach der Seite greifen, aber ihre Hand zitterte plötzlich stark.
    »Valerian Raabe... Hrabanus Valens... Valerius Corvus …«
    »Marie-Anna und Anna und Annik. Ja, es berührt einen seltsam. Und mehr als das, Anna. Ich habe, nachdem du heute Nacht die Frage gestellt hast, ob dieses Haus auf alten, römischen Grundmauern steht, die Unterlagen eingesehen, die von diesem Gebäude existieren. Von einer römischen Vergangenheit fand ich nichts. Doch die Schreinsakten besagen, dass Ende des fünfzehnten Jahrhunderts dieses Haus dem Ratsherren und Gewürzhändler Hrabanus Valens gehörte. Man nannte es damals das Haus ›Zum Raben‹.«
    Marie-Anna schwieg lange, dann strich sie über die kunstvoll gearbeiteten Seiten und fragte: »Was mag die Stiftsdame Anna mit jenem Hrabanus Valens verbunden haben?«
    »Liebe, Kind.«
    »Ja, so sieht es aus.«
    Er legte ihr den Arm um die Schulter.

    »Ich halte es, wie etliche meiner Brüder in der Loge, nicht für

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