Der Lilienring
verhangen. Läden, sofern sie vorhanden waren, hingen morsch in den Angeln. Eine Ratte huschte vor seinen Füßen die Treppe zu den Kellerräumen an der Straßenseite hinunter. Von unten stieg Gestank auf, hörte man zankende Stimmen und Kinderwimmern. Zwei dürre Gestalten hatten sich in einen Hauseingang gekauert und mit zerlumpten Decken ein Nachtlager gerichtet. Sie sahen noch nicht einmal auf, als der Fremde vorüberging. Einige Schritte vor ihm lag die dunkle Masse des Gereonsklosters, doch er wählte den Weg, der nach rechts führte. Hier wurde es belebter, an manchen Häusern brannten sogar Laternen
über der Tür, doch die geschminkten Dirnen, die auf dem Berlich auf Kundschaft warteten, waren nicht sein Geschmack. Er zog den Mantel enger um sich und beschleunigte seine Schritte. Die Gassen und Gässchen bildeten ein verwinkeltes Gewirr, und das eine oder andere Mal beschlich den Besucher das unangenehme Gefühl, von Augen aus den Ecken und Winkeln abschätzend beobachtet zu werden. Als er in der Diebesgass angekommen war, hatte ihn die Orientierung verlassen, und er hoffte, bald einen Platz zu finden, der ihm eine freie Aussicht gewährte, um wenigstens den Dom mit seinem markanten Kran auf dem Turmstumpf gegen den Abendhimmel erkennen zu können. Er fand schließlich eine breitere Straße, die er mit Erleichterung wählte, und stellte fest, dass hier die besseren Wohnviertel begannen. Baumbestandene Gärten verbargen sich hinter Mauern und Hecken, in den Häusern waren die Fenster erleuchtet, einige Meter weiter hörte man sogar Musik herausschallen. Ein Fest mochte dort stattfinden. Er blieb stehen und hörte dem klaren Alt zu, der eine schlichte, aber gefühlvolle Ballade sang.
»Schön, nicht, Monsieur?«, bemerkte eine leise Frauenstimme neben ihm.
»Oui, Mademoiselle.«
Er drehte sich um und betrachtete die Sprecherin, die sich an das Gartentor lehnte. Sie war nicht für eine Gesellschaft gekleidet. Ein einfaches, graues Kleid und ein warmer Überwurf ließen eher auf eine Gouvernante oder Haushälterin schließen. Doch die goldblonden Haare, zu einem langen Zopf geflochten und im Nacken aufgesteckt, erregten seine Bewunderung.
»Sprechen Sie Französisch, Mademoiselle?«, fragte er in diesem Idiom.
»Ja, Monsieur, natürlich.«
»Wunderbar. Dann können Sie mir sicher helfen. Ich
bin zu Gast in dieser Stadt und kenne mich nicht aus. Leider habe ich mich ein wenig verlaufen bei meinem abendlichen Spaziergang.«
»Wo haben Sie denn Ihr Quartier bezogen, Monsieur?«
»Es ist ein ungeheuerliches Wort. Haus Zuydtwyk. Aber es gibt dort ein Kloster des Gereon.«
»Oh, das liegt wahrlich am anderen Ende der Stadt. Wie sind Sie denn hierher gekommen?«
»Durch recht dunkle Gassen, meine Liebe. Und ich würde sie nicht sehr gerne als Rückweg wählen.«
»Nein, das müssen Sie auch nicht. Wenn Sie sich hier unten an der Kirche von Sankt Maria im Kapitol nach links wenden und immer Richtung Dom gehen, haben Sie einen gepflegteren Weg vor sich. Am Dom allerdings …«
»Ja, am Dom sieht es nicht sehr einladend aus.«
»Wissen Sie was, Monsieur, ich werde Sie zu Ihrem Quartier führen. Ich kenne diese Stadt recht gut, und bestimmt kann ein Bediensteter Ihres Gastgebers mich auf dem Rückweg begleiten.«
»Mademoiselle sind sehr großzügig.«
»Warten Sie, ich muss über die Mauer klettern, das Tor ist versperrt.«
»Und ein wenig abenteuerlustig?«
»Manchmal, Monsieur.«
Sie nahm ihre Röcke zusammen und schwang sich über die nicht sehr hohe Mauer. Er half ihr galant herunter.
»Voilá! Und nun gehen wir dort entlang.«
Ein paar Schritte gingen sie schweigend nebeneinander her, dann fragte der Fremde: »Wohnen Sie schon lange in Köln, dass Sie sich so gut auskennen?«
»Seit 1802.«
»Und wie hat es Sie aus Ihrer – vermutlich nördlichen
– Heimat unseres schönen Vaterlandes hierher verschlagen?«
»Hört man es so deutlich?«
»Ihre französische Aussprache ist ein wenig hart, Mademoiselle. Aber charmant und gebildet. Also, wie gelangten Sie in diese Stadt?«
»Über viele Umwege, Monsieur.«
»Und nun wohnen Sie in jenem Haus, an dem wir uns trafen?«
»Ja, Monsieur, es ist das Haus des Kommerzialrates Valerian Raabe.«
»Seinen Namen hörte ich schon einmal. Ein einflussreicher Mann in der Stadt. Welche Stellung nehmen Sie bei ihm ein, Mademoiselle?«
Die Mademoiselle erlaubte sich ein winziges Lächeln, das dem Fremden nicht entging.
»Seine Tochter lernt die
Weitere Kostenlose Bücher