Der Lilienring
ausgeschlossen, dass es eine Art von Wiedergeburt oder Seelenwanderung gibt. Und möglicherweise ist die treibende Kraft, die die Seelen über alle Zeiten und Welten wieder zusammenführt, die Liebe.«
Sie schmiegte sich an ihn und nickte zustimmend.
Der Oktober war freundlich zu ihnen. Nach den ersten Herbststürmen trat ruhiges, mildes Wetter ein, und die Sonne wärmte noch einmal den Garten hinter dem Haus. Herbstastern blühten bunt auf den Rabatten, und die letzten Rosen dufteten an den Spalieren. Das rankende Weinlaub färbte sich leuchtend rot an den Wänden, und Mathilda stellte Sträuße von kupferfarbenen Chrysanthemen in die Zimmer. Valerian hatte mit Rosemarie und Graciella über sein Verhältnis zu Marie-Anna gesprochen und von beiden freudige Zustimmung erhalten. Doch ansonsten wurde über diese Beziehung Schweigen gewahrt, auch wenn selbstverständlich das Personal wusste, was vor ihren Augen geschah. Selten hatten sie den Kommerzialrat so entspannt und heiter erlebt. Er führte Marie-Anna zusammen mit Rosemarie und Graciella oft aus, häufig begleitete sie dabei Faucon. An einem Tag kam die Schneiderin ins Haus und nahm für einige modische Kleider an Marie-Anna Maß, dann wieder fand sie eine flache Lederschachtel in ihrem Zimmer, die ein zartes Collier, das zu ihrem Lilienring passte, enthielt. Für ein langes Wochenende fuhren sie gemeinsam zum Gut der alten Raabes hinaus und unternahmen Ausritte durch den Herbstwald und eine Ruderpartie auf den stillen Altrheinarmen. An den Abenden schlich sich Marie-Anna in das Turmzimmer und genoss mit Valerian gemeinsam die ländliche Stille der Nacht. Hier geschah es zudem, dass er ihr den Ring an den Finger steckte.
»Du hast ihn aus der Schale im Grab genommen, Valerian?«
»Ja, und du hast es bemerkt und in bewährter Form geschwiegen, mein Herz.«
»Ich wollte niemanden verraten. Und – ich glaube, wenn er nicht schon fort gewesen wäre – ich hätte der Versuchung nicht widerstehen können, ihn selbst an mich zu nehmen.«
Sie standen auf dem Dach des Turmes und sahen einem flammenden Sonnenuntergang zu.
»Omnia Vincit Amor.«
»Besiegt die Liebe alles?«
»Ich hoffe es.«
»Valerian – ich liebe dich.«
»Dann wird es wahr werden, mein Herz.«
»Valerian, darf ich dir eine Frage stellen. Du musst sie nicht beantworten, wenn du nicht willst, aber...«
»Frag nur. Ich denke, ich weiß, was du wissen willst.«
»Die Narbe an deinem Hals, wie kam es dazu?«
»Vor vielen Jahren, um genau zu sein, vor achtundzwanzig, begleitete ich eine Handelsdelegation meines Vaters nach Italien. Ich habe früh begonnen, in seinem Geschäft zu lernen, und dies war meine erste Reise. Sie war für mich ein wunderbares Abenteuer, bis zu dem Tag auf dem Rückweg, an dem ich mich voll Übermut selbstständig gemacht hatte und während einer langweiligen Rast die Gegend erkundete. Eine Bande von fünf Wegelagerern überfiel mich. Da ich alleine war, konnte ich wenig gegen sie ausrichten. Drei verletzte ich, doch sie überwältigten mich, raubten mich aus, nahmen mir meine Kleider und schließlich hängten sie mich an einem Baum auf. Sie verließen mich, und ich sah mein Leben schwinden. Doch der Zufall wollte es, dass der Ast morsch war und brach, bevor ich erstickte. Ich fiel nieder, verlor das Bewusstsein. Gelegentlich wachte ich
auf, frierend, von Schmerzen gepeinigt. Ich konnte nicht um Hilfe rufen, meine Stimme beherrschte ich nicht mehr. Erst am nächsten Morgen fand mich ein alter Mann, der Holz im Wald sammelte. Er und seine Frau pflegten mich in ihrer Hütte und haben sogar meine Begleiter schließlich gefunden. Sie brachten mich nach Hause. Seither krächze ich wie ein Rabe!«
»Vor achtundzwanzig Jahren kam ich auf die Welt.«
»Ich weiß, meine Geliebte. Und du solltest noch etwas wissen. Als mich der Alte fand, schwebte ich lange Zeit zwischen Leben und Tod, und ich wanderte in meinen Fieberträumen durch seltsame Gefilde. Ich kann mich nicht an alles erinnern, was ich sah, ich möchte es gar nicht. Manches war erschreckend, anderes unglaublich schön. Doch die Gestalten, denen ich begegnete, schienen keine Fremden zu sein.«
»Wem bist du begegnet?«
»Königen und Bettlern, Kriegern und Sängern.«
»Und den Dieben und den Richtern, den Törichten und den Weisen?«
»Den keuschen Jungfrauen und der Verführerin, der liebenden Mutter und der Verräterin. Ja, Marie-Anna, all diesen bin ich begegnet. Und es hat sich so tief eingeprägt, dass
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