Der Lilienring
eingetreten war, irritierte sie. Es waren viele Fragen offen, die sie gerne beantwortet haben wollte. Einige davon betrafen Valerian Raabe. Andere würde sie sich selbst beantworten müssen.
»Kommst du bitte in einer halben Stunde in mein Arbeitszimmer, Marie-Anna. Ich habe mit dir zu reden«, forderte Valerian Raabe sie schließlich auf, als der Tisch abgeräumt war. Er erhob sich und verließ den Raum. Eine leichte Verblüffung lag auf Rosemaries Gesicht, als sie die vertrauliche Anrede bemerkte.
»Was ist zwischen euch vorgefallen?«
»Ich weiß es noch nicht.«
»Madame und Berlinde sind ziemlich überstürzt abgereist.«
»Lass es gut sein, Rosemarie.«
»Das kann ich nicht. Marie-Anna, du siehst nicht glücklich aus.«
»Nein, nicht?«
»Rosemarie, lass sie«, schaltete sich Graciella ein.
»Ich bin auf meinem Zimmer.«
Marie-Anna erhob sich und verließ den Raum. In ihrem Zimmer angekommen, fand sie auf dem Bett eine Schachtel, und als sie sie öffnete, lag darin ein dunkelgrünes Samtnegligé mit weißem Pelzbesatz an Kragen und Ärmeln. Sie seufzte bei seinem Anblick, ließ es aber liegen, setzte sich an das Tischchen und schlug ihr Tagebuch auf. Es half ihr ein bisschen, das Geschehen zu notieren. Doch als sie aufschrieb, was sich in der Nacht abgespielt hatte, errötete sie über ihre eigene Dreistigkeit. Valerian musste sie für eine überaus schamlose Dirne halten, so wie sie sich benommen hatte. Die Folgen hatte sie nun zu tragen. Gefallen hatte es ihm wahrscheinlich, aber nun würde er ihr vermutlich wie Mimmi oder Sara oder Elvira ein Appartement in der Stadt anbieten und sie dort besuchen, wenn ihm der Sinn nach weiblicher Unterhaltung stand. Und irgendwann würde eine jüngere, attraktivere Frau ihre Stelle einnehmen. Das Dasein einer Maitresse aber war nicht das, was sie sich für ihr Leben erhofft hatte. Sie verfluchte ihr leidenschaftliches Blut und saß mit hängendem Kopf über den Aufzeichnungen, als es an ihrer Tür klopfte. Schnell schlug sie das Buch zu und rief: »Herein!«
»Hast du vergessen, dass ich mit dir sprechen wollte, Marie-Anna?«
»Verzeihen Sie, ja. Ich war in Gedanken versunken.«
»Komm in mein Zimmer.«
»Ja, Monsieur.«
»Wieder so förmlich, Marie-Anna?«
Er lächelte sie an, als sie mit ernster Miene an der von ihm aufgehaltenen Tür vorbeiging.
»Es scheint mir angemessener.«
»Schau mich an, Marie-Anna.« Er ergriff ihre Ellenbogen und drehte sie zu sich herum. »Habe ich dich beleidigt oder verletzt, ohne es zu bemerken?«
»Nein, Monsieur. Das... das Problem liegt in mir. Ich habe mich nicht sehr korrekt verhalten. Ich wünschte, ich könnte es ungeschehen machen, Monsieur.«
»Was heute Nacht geschah?«
Sie nickte.
»Warum? Ich fand es sehr… beglückend. Und ich hatte auch das Gefühl, es sei für dich ähnlich gewesen. Täusche ich mich da so sehr?«
Sie sah ihn an und schüttelte dann langsam den Kopf.
»Das ist ja das Problem.«
»Setzen wir uns vor den Kamin.« Er wies auf die Sessel und reichte ihr das Glas mit dem leichten Wein, den er für sie bereitgehalten hatte. »Hast du jetzt Angst vor der eigenen Courage?«
»Ja, wahrscheinlich.«
»Dann lass mich nun berichten, was heute geschehen ist. Ein Teil davon ist dir sicher schon zu Ohren gekommen, nicht wahr?«
Wieder nickte sie.
»Ich habe meine Frau zu ihren Eltern geschickt, Berlinde bleibt bei ihr. Beiden habe ich mein Missfallen über die Erziehungsmethoden ausgesprochen, die sie Graciella angedeihen lassen. Ich kann dir versichern, es sind sehr deutliche Worte gesprochen worden. Marie-Anna, bist du mit den gegenwärtigen Rechtsgepflogenheiten vertraut?«
»In welcher Beziehung?«
»In Eheangelegenheiten?«
»Nicht sehr. Worauf möchten Sie hinaus?«
»Ein Ehemann verfügt über weit gehende Rechte seiner Frau gegenüber. Unter anderem kann er bestimmen,
wo sie ihren Wohnort aufzuschlagen hat, wer sich um ihre Kinder kümmert, wie ihr Lebenswandel auszusehen hat und was mit ihrem Vermögen geschieht. Ich war bisher Ursula gegenüber mehr als großzügig, wie du sicher hin und wieder mit Verwunderung festgestellt hast. Ich bin kein Freund davon, ein anderes denkendes Wesen zu unterdrücken.«
»Ach!«, entfuhr es Marie-Anna.
Er lachte heiser.
»Es hat für dich einen anderen Anschein?«
»Sie haben zumindest wohl heute gegen diesen Grundsatz gehandelt.«
»Es gibt Menschen, die die ihnen gegebenen Freiheiten nicht recht zu gebrauchen wissen. Es hat nicht nur
Weitere Kostenlose Bücher