Der Lilienring
etwas mit dir zu tun, Marie-Anna. Es ist eine Angelegenheit, die schon seit Jahren zwischen Ursula und mir schwelt. Doch sie hat es jetzt zu einem Eklat geführt, der meinerseits Konsequenzen erforderlich macht.«
Marie-Anna fragte sich, ob Faucon ihm inzwischen von den Diebereien und den Geschäften mit den Schmugglerinnen erzählt hatte, aber sie traute sich nicht, ihn zu fragen. Stattdessen hörte sie weiter schweigend zu.
»Zunächst wird sie für drei Wochen in Siegburg bleiben, doch ich kann es aus verschiedenen Gründen im Moment nicht vermeiden, dass sie zum Besuch des Kaisers hier wieder Wohnung nimmt. Wir haben gesellschaftliche Pflichten in diesem Zusammenhang, die ihre Anwesenheit notwendig machen. Doch danach wird es ein neues Arrangement geben. Welches, Marie-Anna, das hängt auch von dir ab.«
»Von mir? Nun ja, ich weiß, Sie halten Ihre Maitressen sehr großzügig aus.«
»So heißt es. Du legst einen bewundernswerten Pragmatismus an den Tag. Aber deine Stimme ist traurig.«
»Notwendigkeit lässt vieles ertragen.«
»Warum so bitter? Oh, ich verstehe. Die Rücksichtslosigkeit der Raabes, nicht wahr? Wir sind gut darin, Beziehungen plötzlich und konsequent zu beenden. Du musst von Cosmea gehört haben. Faucon, nicht wahr?«
»Und ein verirrter Brief von ihr.«
»Aber Rosemarie hast du nichts gesagt. Weißt du, dass ich dich manchmal bewundere?«
Ein Lächeln stahl sich in ihre Augen.
»Dafür, wie ich Geheimnisse zu wahren pflege?«
»Ja. Eine seltene Eigenschaft bei Frauen. Marie-Anna, willst du uns beiden eine Chance geben?«
»Was meinst du damit, Valerian?«
Er trat hinter ihren Sessel und legte ihr die Hand auf die Schulter.
»Bleib bei mir, Anna.«
»Soll ich?«
»Ja, meine eigensinnige Freundin. Jetzt, morgen, die nächsten Tage, und wenn wir uns vertragen, dann auch noch darüber hinaus.«
Sie lehnte den Kopf an seinen Arm und schloss die Augen.
»Wollen wir es so halten?«
»Ja, Valerian. Gerne.«
Er reichte ihr die Hand, und sie stand auf. Als sie vor ihm stand, zog er sie an sich und küsste sie.
»Deine so sorgsam versiegelten Lippen sind eine Versuchung.«
»Empfandest du sie eben als versiegelt?«
»Nur in Bezug auf Geheimnisse.«
Er berührte ihre Lippen sacht mit dem Zeigefinger, fuhr ihre Konturen nach und nahm sie dann wieder mit seinem Mund in Besitz.
Ein wenig atemlos trennten sie sich, als es an der Tür klopfte. Valerian Raabe gab mit der Glocke auf seinem Schreibtisch das Zeichen zum Eintreten.
»Haben Sie heute Abend noch Wünsche, Herr Kommerzialrat?«, fragte Edwin, der Kammerdiener, höflich nach und vermied es wiederum, Marie-Anna anzusehen.
»Wie du sicher bemerkt hast, Edwin, habe ich einen Gast, der auch zur Nacht bleibt. Richte mein Bett dementsprechend. Außerdem wünsche ich ein Feuer im Kamin im Schlafzimmer«
»Sehr wohl, Herr Kommerzialrat.«
»Und weck mich morgen nicht vor halb neun.«
»Wie Sie wünschen, Herr Kommerzialrat.«
Er ging nach nebenan und machte sich im Schlafzimmer zu schaffen.
»Ein guter Kammerdiener, doch sein Gesicht spricht Bände.«
»Missbilligt er mein Hiersein?«
»Im Gegenteil. Es verschafft ihm ein großes Vergnügen, mich in den Klauen eines eigensinnigen Weibes zu sehen. Doch wir wollen ihm keine weitere Zurschaustellung unserer Zuneigung liefern, damit er ruhig schlafen kann. Komm her und schau dir das hier an. Eventuell kannst du dir einen Reim darauf machen.«
Valerian Raabe führte Marie-Anna zu seinem Schreibtisch, zog einen weiteren Stuhl heran und deutete auf die ausgebreiteten Blätter. Es waren Doppelbögen. Zwei Seiten lagen aufgeschlagen. Ein geradezu plastisches Rankwerk bildete den Rahmen für die rechteckige Fläche in der Mitte. Eine davon enthielt ein Bild, die gegenüberliegende Seite war an dieser Stelle jedoch leer.
»Das muss ein großer Künstler gemalt haben, die Blumen kann man förmlich vom Blatt pflücken.«
»Es steht zu vermuten, dass es eine Künstlerin war, die dieses Werk hergestellt hat.«
»Was ist es?«
»Es ist ein Teil eines unvollendeten Stundenbuches.
Ich erhielt es zusammen mit der Sammlung, die du letztes Jahr mit Rosemarie bearbeitet hattest. Du erinnerst dich, es war die, bei der ein Siegelring fehlte.«
»Die Sachen aus dem Äbtissinnenhaus von Maria im Kapitol.«
»Genau. Wir haben es hier mit einem höchst eigenwilligen Werk zu tun, das nur sehr schwer zu erklären ist.«
»Meine Mutter besaß ein altes Stundenbuch, erinnere ich mich. Ich habe als
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