Der Lilienring
französische Sprache.«
»Ah ja. Sehnen Sie sich nicht nach Ihrer Heimat zurück?«
»Doch, gelegentlich.«
»Was hält Sie davon ab, sie zu besuchen?«
»Die Umstände, Monsieur.«
»Die hiesigen oder die dortigen?«
»Bisher die dortigen.«
»Daraus mag man schließen, Sie könnten Ihre Familie und Ihr Heim nicht ganz freiwillig verlassen haben.«
Sie antwortete darauf nicht, und ihre Wanderung durch das nächtliche Köln führte sie am Rathaus vorbei.
»Das Gefängnis, Monsieur«, erklärte sie. »Man nennt es auch die ›Violine‹, denn es heißt, der erste Arrestant sei ein durstiger Stadtmusikus gewesen, der nach einem Streit am Kirmes-Sonntag mit seiner Violine dort festgesetzt wurde.«
So erreichten sie den Dom, und Marie-Anna wies ihn auf die düstere Hacht neben der Sous-Préfecture hin.
»Keine freundliche Gegend. Es nimmt mich wunder, dass Sie sich hier ebenso gut auskennen.«
»Ich erwähnte Umwege in meinem Leben.«
»Die einen bretonischen Flüchtling auch auf Abwege geführt haben?«
»Wie Sie sagen, Monsieur.«
Sie bogen vom Dom aus in die Trankgasse und von dort in die Schmierstraße mit seinem Comödien-Haus ein.
»Unser Theater, Monsieur. Es treten derzeit einige sehr begabte Schauspieler hier auf.«
»Auch einer Ihrer Umwege?«
»Auch.«
Der Fremde blieb unter einer Laterne stehen und betrachtete seine Begleiterin.
»Geflohen, im Gefängnis gelandet, dann beim Theater und nun bei einem der einflussreichsten Männer der Stadt zu Hause. In der Tat, ein abwechslungsreicher Lebensweg. Was hat Sie in die Hand der Justiz gebracht, Mademoiselle?«
»Unter anderem meine bedauernswerte Neigung zum Schabernack. Ich hatte eine Karikatur unseres verehrten Kaisers angefertigt, die das Missfallen des Sous-Préfet erregte.«
»So, so. Mademoiselle, verraten Sie mir Ihren Namen?«
»Wenn Sie darauf bestehen.«
»Ich bitte darum.«
»Ich werde Marie-Anna gerufen, und mein Heim war das Chateau Kerjean im Finistère.«
»Wo Ihre Eltern noch heute leben?«
»Nein, französische Truppen wählten es nach der Niederschlagung der Rebellen, der Chouans, auf der Quiberon als Unterkunft. Meine Mutter starb darüber. Mein Vater …«
»Lebt er noch?«
»Wer weiß, vielleicht überlebt er die Kerkerhaft. Man spricht davon, dass er deportiert werden soll.«
Er setzte sich wieder in Bewegung und schien nicht mehr geneigt, weiter mit ihr zu plaudern. Einmal unterbrach sie sein Schweigen, um ihm die neue Richtung anzugeben. Dann standen sie vor dem Palais des Johann Balthasar Joseph von Mülheim, des achtmaligen Bürgermeisters der Stadt Köln.
Der Fremde blieb einige Schritte vom Eingang stehen und wandte sich erneut an seine Begleiterin.
»Haben Sie schon einmal erwogen, bezüglich Ihres Vaters einen Antrag auf Begnadigung zu stellen?«
»Nein, Monsieur. Ich bin bislang nicht davon ausgegangen, dass es einen Sinn haben könnte.«
»Weil Sie Ihren Kaiser für hart und unbarmherzig halten?«
»Mein Kaiser lebt in einer anderen Sphäre als ich. Ich kann ihn nicht beurteilen. Glauben Sie denn, er würde ein solches Gesuch überhaupt entgegennehmen?«
»Wenn Sie es ihm bis morgen übergeben haben... Und nun, Mademoiselle de Kerjean, Tochter von Brior le Noir, bedanke ich mich für Ihre Begleitung und Ihre angenehme Gegenwart. Sie hat mir geholfen, die hässlichen Eindrücke, die ich von den Armenvierteln mitgenommen habe, mit anderen Augen zu sehen.«
»Sie sind sehr freundlich, Monsieur.«
»Gelegentlich, Mademoiselle, kann ich mir das leisten.« Er nahm ihre Rechte und hob sie an seine Lippen. »Schlafen Sie gut, Marie-Anna.«
»Sie auch, Majes...«
»Psst.«
»Monsieur.«
»Major!«, rief der Fremde einem Offizier zu, der bei den Wachen vor dem Haus stand. Der Soldat kam eilig
auf ihn zu und nahm Haltung an. »Sie verbürgen sich dafür, dass Mademoiselle unbelästigt nach Hause kommt.«
Der Major verbeugte sich stumm und reichte Marie-Anna den Arm.
Sie wechselten kein Wort miteinander. Marie-Anna war viel zu aufgewühlt, und der Major zu diskret. Was er sich dachte, mochte indes weit von der Wahrheit entfernt sein.
Lichter, Stimmengewirr und Gläserklingen drangen aus dem Haus des Kommerzialrates Raabe, als Marie-Anna an der Tür klopfte. Die Gesellschaft war noch in vollem Gange, und es gelang ihr nicht, ungesehen an der Bel-Etage vorbei in ihr Zimmer zu schlüpfen. Valerian sah sie und fing sie auf der Treppe ab.
»Wo bist du gewesen, Marie-Anna? Warum bist du nicht bei
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