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Der Lilienring

Titel: Der Lilienring Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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konnte ich das, denn für sie alleine war es viel zu groß. Aber es hatte mir dennoch einen argen Stich versetzt, als sie mich einfach so davon in Kenntnis gesetzt hatte. Ich hatte mit Dr. Schneider, Julians Rechtsberater, darüber gesprochen, und er hatte inzwischen die Angelegenheit geprüft. Ich hatte ein Vorkaufsrecht, und er hatte mir nahe gelegt, davon Gebrauch zu machen. Nicht unbedingt, um das Haus zu kaufen, sondern um Mitsprache bei der Abwicklung zu haben. Eine Auseinandersetzung mit meiner Mutter darüber
stand mir bevor, wenn sie von ihrem Urlaub zurückkehrte.
    Ich hielt in der Auffahrt und schlenderte an der blühenden Forsythienhecke vorbei. Tilly öffnete mir, als ich klingelte. Sie war eine gesprächige Frau Anfang fünfzig und im Grunde ein schlichtes Gemüt, das sie befähigte, mit bewundernswerter Geduld die Launen ihrer Arbeitgeberin zu ertragen.
    »Guten Morgen, Frau Kaiser!«, begrüßte sie mich mit einem Lächeln. »Ihre Mutter ist aber nicht da!«
    »Ich weiß, Tilly. Sie ist auf Malta, wenn sie sich nicht anders entschieden hat.«
    »Oh, wissen Sie nicht? Sie hat umgebucht. Aber kommen Sie doch erst einmal rein. Möchten Sie einen Kaffee?«
    »Die Einladung nehme ich an. Wo ist Uschi denn jetzt, wenn sie nicht nach Malta geflogen ist?«
    »Teneriffa, hat sie gesagt. Warten Sie, ich habe die Adresse hier. Ich gebe sie Ihnen nachher mit.«
    »Wie kommt es, dass sie jetzt dort ist?«
    »Weil der Herr Schwartz dort eine Finca oder so was hat.«
    »Der Herr Schwartz?«
    »Brian Schwartz. Hat Sie Ihnen das nicht mitgeteilt?«
    »Von einem Herrn Schwartz hat sie nie gesprochen. Wer ist das?«
    »Oh, ein guter Bekannter, glaube ich. Sie hat ihn so um Weihnachten herum kennen gelernt. Ein gut aussehender Mann, Amerikaner, wie es scheint. Er hat mit Medien zu tun, Musikbranche, wenn ich richtig verstanden habe. Sie sind oft miteinander ausgegangen in den letzten Wochen.«
    Ich zuckte mit den Schultern. Möglicherweise war dieser Schwartz ein Bekannter meines Vaters. Das wäre nicht ausgeschlossen. Es konnte mir auch gleichgültig
sein, mit wem sie ausging und ihren Urlaub verbrachte. Mich wunderte nur, dass sie mir permanent die abgrundtief Trauernde vorgespielt hatte.
    »Aber sie kommt nächste Woche wieder zurück?«
    »Am dreizehnten, ja.«
    »Gut. Tilly, ich muss etwas aus den Unterlagen meines Vaters heraussuchen. Ich nehme an, ihr habt sein Zimmer noch nicht umgeräumt!«
    »Um Himmels willen, nein. Ihre Mutter erlaubt mir noch nicht einmal, darin Staub zu wischen.«
    »Na, dann wird das eine lustige Angelegenheit. Ich gehe eben mal hoch und schaue nach, ob ich die Sachen finde.«
    »Ob ihr das recht ist, Frau Kaiser?«
    »Das weiß ich nicht. Wahrscheinlich nicht, aber ich brauche die Dokumente. Sie sind wichtig, um verschiedene Dinge abzuwickeln.«
    »Na gut, wenn Sie meinen.«
    Sollte Tilly in dem Glauben bleiben, ich suchte nach aktuellen Dokumenten.
    Es rührte mich Traurigkeit an, als ich Julians Arbeitszimmer betrat. Es war tatsächlich noch so, wie er es zu seinen Lebzeiten verlassen hatte. Noch nicht einmal das Buch, in dem er gelesen hatte, war zugeschlagen. Ich nahm es in die Hand. Ein Gedichtband. Die offene Seite enthielt das Lied des großen Barden Taliesin, und mein Blick fiel auf die einleitenden Worte: »Ich bin in vielen Gestalten erschienen, bevor ich die passende Form fand. Ich war eine schlanke, vergoldete Lanze, dessen erinnere ich mich noch heut. Bin ein Regentropfen in den Lüften gewesen, ich war der fernste der Sterne. Ich war ein Wort in einer Botschaft, vorher noch war ich ein Buch …«
    Die Tränen machten mich blind, und ich blätterte weiter, blinzelte, las Bruchstücke.

    »... Ich war ein Held der blutgetränkten Wiesen mitten unter hundert Anführern …
    ... Die Zeit, wo ich Hirte war, ist längst vorbei. Lang wanderte ich auf der Erde umher, bevor ich Wissen erlangte. Ich irrte umher, ich wanderte, ich schlief auf hundert Inseln, ich trieb mich an hundert Orten umher …«
    »Ach Julian, ich hoffe, du wanderst auch jetzt unter den blühenden Bäumen der Anderwelt, lauschst den Liedern der alten Sänger, reitest die falben Rösser entlang des weißen Strandes und folgst dem Flug der freien Vögel.«
    Mein zerknülltes Taschentuch wurde feucht, ich ließ es in den Papierkorb fallen. Ich nahm ein frisches aus dem Päckchen, das neben der Schreibtischuhr lag und schnäuzte mich. Es gab etwas zu tun, für Trauer war jetzt keine Zeit. Den Gedichtband aber packte

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