Der Lilienring
was ich geträumt habe.«
Cilly kam zurück und trug das fünfte Tagebuch in der Hand.
»Du hast richtig geträumt, Anita. Hier ist der Zeitungsbericht über die Explosion des Munitionsdepots, bei dem eine junge Französin getötet wurde. Es wird berichtet, der Verantwortliche habe sich den Behörden gestellt. Markus Bretton.«
»Vielleicht habe ich das beim Durchblättern irgendwie unbewusst überflogen. Je nun... Könnt ihr mich ein bisschen alleine lassen?«
»Ungerne. Du bist so traurig, Anita.«
»Ich will schlafen, Rose. Bitte.«
Sie ließen mich in Ruhe, und ich sank tatsächlich noch einmal in einen traumlosen Schlaf. Als ich wieder aufwachte, füllte strahlender Sonnenschein den Raum.
Mein Wecker verriet mir, dass es halb zehn war, und ich gönnte mir eine kühle Dusche, um die Benommenheit abzuschütteln.
Musette, die weiße Katze mit den gelben und grauen Flecken, hatte sich auf meinem Schoß zusammengerollt. Sie gehörte eigentlich den Nachbarn und war eine entsetzliche Räuberin. Ein Camembert war ihr bereits zum Opfer gefallen, und Rose hatte sie eine Scheibe Schinken völlig unverfroren vom Brot geklaut. Aber ansonsten war sie sanft und tröstlich, ein Pelzkringel, der vor sich hin döste.
»Los, komm mit, Anita! Du kannst hier nicht den ganzen Tag in einer psychischen Dampfwolke sitzen und vor dich hindünsten.«
»Das kann ich wohl.«
»Nichts da. Heb deinen knackigen Hintern von der Liege, gib Musette einen Schubs, zieh dir was passend Aristokratisches an, wir fahren zum Schloss!«
»Ihr geht mir auf die Nerven.«
»Falsch, du gehst dir auf die Nerven.«
»Rose, was kannst du ätzend sein!«
Aber wahrscheinlich hatte sie Recht. Es nützte nichts, über die Vergangenheit nachzugrübeln, und es nützte auch nichts, vor der Zukunft Angst zu haben. Die Gegenwart war jetzt und hier. Und hier war es jetzt traumhaft schön geworden. Der Himmel war fast makellos blau, die weißen Wolkentupfer dienten mehr der Dekoration, als eine wettermäßige Bedrohung darzustellen. Der Wind, der die ganze Zeit über recht scharf und kühl gepfiffen hatte, war schwächer geworden, die klare, wunderbar reine Luft mild und ein wenig salzig.
Rose fuhr, Cilly las die Karte, und wir erreichten nach einer Viertelstunde auf Landstraßen niedrigster Ordnung, die uns durch eine bezaubernde Heckenlandschaft
führten, ein kleines, bewaldetes Gebiet. Ein Parkplatz für Wanderer und Besucher war ausgewiesen. Er war bis auf ein weiteres Fahrzeug leer.
»Hier ist es. Steig aus, Anita!«
Rose versperrte das Auto, und wir durchschritten das Tor in der von allerlei Rankgewächsen überwucherten Umfassungsmauer. Eine lange, kiesbestreute Pappelallee zog sich schnurgerade durch eine gepflegte Parkanlage. Rechts und links breiteten sich Rasenstreifen aus, die von Hortensienbüschen gesäumt waren. Sie standen in ihrer ersten Blüte, violette, rosafarbene, blaue und weiße Ballen nickten zwischen den Blättern. Es wirkte zauberhaft, und die Sonne flimmerte durch das junge Blattgrün der hohen Bäume. Mit jedem Schritt Richtung Schloss verlor sich etwas von meiner dumpfen Traurigkeit.
»Was ist das? Ein Korb für Riesenbienen?«
Cilly stand staunend vor einem etwa fünf Meter hohen Gemäuer, das wirklich aussah wie ein überdimensionaler Bienenkorb.
»Die Bienen, die hier ein- und ausflogen, hatten Federn und gurrten, meine Liebe. Das ist die Colombière. Aber ich will nicht angeben, wenn es hier nicht auf dem Täfelchen stünde, wüsste ich es genauso wenig. Es scheint, so ein Ding war das geschätzte Prestigeobjekt aller hiesigen Schlossbesitzer.«
»Oh, und hier wird es martialisch!«, staunte Rose. »Da war früher bestimmt mal Wasser drin.«
Ein grasbewachsener Wallgraben umgab Chateau Kerjean, eine Festungsmauer mit Wehrgang und Türmen an den Ecken hinterließ den Eindruck einer stark befestigten Anlage, die kriegerischen Horden wohl zu trotzen wusste.
Doch heute stand das Tor weit offen, die Zugbrücke war heruntergelassen, und gegen ein geringes Entgelt durften wir unbehelligt den Schlosshof betreten.
»Na ja, was man so Schloss nennt!«, meckerte Rose. »Noch nicht mal Schlösschen. Außen eine Mordsshow machen mit Graben und Mauern, und dann verbirgt sich dahinter gerade mal ein besseres Einfamilienhaus.«
»Für eine große Familie allerdings, und recht geräumig.«
Aus grauem Stein, wie er überall in der Bretagne verwendet wurde, waren die Gebäude um den fast quadratischen Hof gebaut. Rechts vom
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