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Der Lilienring

Titel: Der Lilienring Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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konnte. Abgesehen davon hatte ich eigentlich auch das Bedürfnis, mich diesen Hinterlassenschaften meines Vaters zunächst alleine zu widmen.
    Wie sich erwies, war das eine kluge Entscheidung.
    In dem Koffer mit den Tagebüchern fand sich alles, was ich mir erhofft hatte. Vier weitere Hefte waren darin, grob überflogen erstreckte sich der Zeitraum, in dem sie geführt wurden, über zwei Jahre. Es waren nicht nur Aufzeichnungen, sondern auch weitere Zeitungsausschnitte, Skizzen, Theaterbillets, Briefe und kleine, gepresste Blumen und Blätter darin. Sehr vorsichtig steckte ich alles in Plastikhüllen. Es gab ein fleckiges Haushaltsbuch, in dem jemand Kochrezepte, Preise für Lebensmittel und allerlei nützliche Haushaltsanweisungen geschrieben hatte, und Skizzenblöcke mit Zeichnungen von Schmetterlingen, Wildblumen und Kräutern. Das Wichtigste aber war eine Dokumentenmappe, und zwar eine sehr neuen Datums. Darin enthalten waren die alten Urkunden und Anzeigen. Hochzeiten, Geburten, Todesfälle, Schenkungen, Verkäufe.
    Nun ja, das würde ein wenig Puzzlearbeit sein, daraus einen Stammbaum zu basteln, aber unmöglich war es nicht.
    Der nächste Fund war ein verschlissenes, schwarzes Samttäschchen. Darin befanden sich zwei zierliche Schmuckstücke. Das erste, das mir in die Hand glitt, war ein zartes Kreuz aus Goldfiligran, besetzt mit einem kleinen Brillanten. Es hing an einer feinen Goldkette. Ich betrachtete es lange und eingehend. Nichts wies auf seine Herkunft hin, nichts auf seine Trägerin. Aber möglicherweise würde dazu etwas in den Tagebüchern stehen. Das zweite Schmuckstück allerdings verursachte
mir das schon gewohnte Kribbeln in den Fingerspitzen, wie es die beiden Ringe zuvor auch getan hatten – der römische Siegelring und der Bernsteinring aus dem Mittelalter. Dies hier war ein goldener Ring, geformt wie eine Lilienblüte, besetzt mit Dutzenden von winzigen Brillanten. Er funkelte in meiner Hand, als ich ihn hin und her drehte. Dann aber untersuchte ich sorgfältig das Innere des Reifes, und wie ich schon vermutet hatte, fand sich darin eine Gravur. »Mors Porta Vitae« hieß sie, »Der Tod ist die Pforte des Lebens«.
    Sacht streichelte ich mit den Fingerspitzen über das Gold. Ich rang mit mir. Sollte ich ihn anstecken? Doch ich entschied mich im Augenblick dagegen. Nein, die Erlebnisse, die mir die beiden anderen Ringe verursacht hatten, wollte ich nicht wiederholen. Zumindest nicht alleine. Dass dieser Ring aber in einem engen Zusammenhang mit dem Schicksal der Marie-Anna stand, bezweifelte ich nicht. Beide Schmuckstücke schob ich in den Beutel zurück und zog das Bändchen zu.
    Im Koffer lag nun nur noch ein Päckchen Briefe, säuberlich mit einem weißen Seidenband zusammengebunden. Anders als die vergilbten Papiere aus der Vergangenheit, sahen diese Schreiben sehr neuzeitlich aus. Ich war plötzlich neugierig. Was hatte Julian bewogen, sie in diesen Koffer zu legen? Alles, was ich bisher darin entdeckt hatte, war so zusammengestellt, dass es den Eindruck hinterließ, als ob es sein Wille gewesen war, dass es von mir gefunden würde. Also ebenfalls diese Briefe?
    Ich zog die Schleife auf und nahm den ersten Bogen zur Hand. Er datierte vierundzwanzig Jahre zurück und begann mit der Anrede: »Mein Liebster!«
    Hoppla – das war nicht Uschis Schrift.
    Ich überflog rasch die anderen Seiten. Stets war es dieselbe Schreiberin, aber das Datum rückte der Gegenwart
näher. Der letzte war vor gut einem Jahr verfasst worden. Die Anrede blieb – »Mein Liebster!«
    Liebesbriefe von einer Verehrerin? Hatte Uschi unter Umständen doch Recht gehabt mit der Geliebten, die Julian heimlich besucht hatte?
    Wer war sie? Hastig suchte ich nach der Unterschrift. Wer immer die Briefe geschrieben hatte, war vorsichtig gewesen. Sie zeichnete mit »Die eine namenlose, immer währende Sehnsucht erträgt«.
    Um mehr herauszufinden, würde ich die Briefe wohl lesen müssen, doch irgendwie widerstrebte es mir, mich in Julians gut gehütete Geheimnisse zu vertiefen. Andererseits – warum hatte er diese Briefe den alten Tagebüchern hinzugefügt? Gab es auch da Zusammenhänge?
    Die Rätsel wurden nicht geringer. Ich würde sie wohl nur lösen können, wenn ich die Briefe von Anfang bis zum Ende las. Doch zu rekonstruieren, wer die Schreiberin war und welche Bedeutung sie für Julian hatte, war schwieriger, als ich erwartet hatte. Die Briefe waren Antworten auf jene, die mein Vater an sie geschrieben hatte. Es

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