Der Lilienring
sie Brotteig knetete, Fleisch und Knochen zerkleinerte, das Butterfass bediente und mit den schweren Pfannen und Töpfen hantierte. Anfangs hatte sie »dem Fräulein« mit dem leichten französischen Akzent etwas misstrauisch gegenübergestanden. Aber schon am Montag, als Marie-Anna mit geschickter Hand Kräuter wiegte und sich auch nicht scheute, mit tränenden Augen Zwiebeln zu schneiden, wurde sie gemütlich. Das »Fräulein« verschwand in der Mehlkiste, das »Sie« zwischen den Graupen, und die beiden fingen an, über die verschiedenen Zubereitungsformen des täglichen Essens zu fachsimpeln.
21. Kapitel
Skandale
Valerian Raabe war am Sonntagnachmittag eingetroffen und hatte sein Turmzimmer bezogen. Abends war er allerdings noch ins Dorf geritten, um dem Pfarrer seine Aufwartung zu machen, und so sah Marie-Anna ihn erst am Montag wieder, als sie das Essen zusammen mit dem Dienstmädchen auftrug. Es hatte ihr einen gelinden Schock versetzt, ihn in dieser Umgebung zu sehen. Verschwunden war der schwarze Frack, verschwunden die hohe Halsbinde, die Brokatweste, die feinen Pantalons und Lackschuhe. Er trug derbe Baumwollhosen, ein weites, gestreiftes Leinenhemd, darüber eine Lederweste, und ein blaues Baumwolltuch ersetzte die Krawatte und halbhohe Stiefel die Lackschuhe. Ein Landmann, kaum von dem Verwalter zu unterscheiden.
»Ich sehe, Frau Mutter, Sie haben Ihre Gäste schon in ihre Pflichten eingewiesen. Danke, Marie-Anna, Sie müssen mir nicht auflegen. So hinfällig bin ich noch nicht, dass ich mir nicht ein Hühnerbein selbst auf den Teller legen kann.«
»Ich habe deine Bettwäsche selbst gelüftet und gebleicht, Papa!«
»Schön, dann werde ich ja keine Alpträume bekommen. Und du, Rosemarie?«
»Erbsen aufgebunden, Unkraut gejätet und die Kübelpflanzen gegossen.«
»Ah, dieses Jahr bist du also die Gärtnerin. Und ihr beiden?«
»Wir haben Eier gesucht!«, antwortete Yannick.
»Und du hast zwei kaputtgemacht.«
»Und Körner gestreut!«
»Und du hast dem Hahn eine Schwanzfeder ausgerissen.«
»Petze!«
»Das ist nicht gepetzt. Dafür hat er dich gepickt! Und das ist viel weniger schlimm, als von Napoleon gekniffen zu werden.«
»Guenevere ist eine Jammerliese. Die hat Angst vor Napoleon.«
»Nun, man soll dem Kaiser Achtung erweisen«, murmelte Valerian Raabe belustigt.
»Quatsch, Napoleon ist der große Gänserich. Der zischt sie an, und dann läuft sie weg.«
»Sie haben, wie ich sehe, das Essen zubereitet, Marie-Anna?«
»Nicht ausschließlich alleine, muss ich gestehen.«
»Was habe ich für Aufgaben, Frau Mutter?«
»Du, Valerian, wirst dir erst einmal ein paar Tage Ruhe gönnen.«
»Aber dann muss er die Stuben kehren!«, schlug Graciella vor.
»Junge Dame, ich darf doch um etwas mehr Respekt bitten. Im Übrigen werde ich mich dem Tort unterziehen, eure Bildung zu mehren. Nachmittags.«
»Ooooch, ich dachte, wir hätten Ferien.«
»Wir werden jeden Tag nach dem Essen zwei Stunden Naturkunde betreiben. Ich hoffe, Ihr habt Skizzenblöcke und Stifte dabei.«
Auch wenn die Jungen murrten, folgten sie seiner Aufforderung, sich mit der Natur zu beschäftigen. Die beiden ersten Unterrichtsstunden erwiesen sich an diesem Tag als ausgesprochen amüsant. Eigentlich sollten sich nur die beiden Kinder und Graciella mit Valerian Raabe mit den Heckenpflanzen und ihren Bewohnern befassen,
aber Rosemarie gab Marie-Anna den Wink: »Komm mit, wenn du meinen Onkel mal als richtigen Menschen erleben willst.«
»Meinst du, er hat nichts dagegen?«
»Bestimmt nicht.«
So war dann auch sie mit Ledertasche, Messer, Block und Stiften bewaffnet losgezogen, um das Leben in den Hecken zu erkunden. Weißdorn, Haselstrauch, dornige Brombeeren, Holunder, Hartriegel und Heckenrosen bestimmten sie, machten Zeichnungen von Lichtnelken und Hundsquecken, von Ackerschachtelhalm und Rauken, stöberten Igel auf und eine vorwitzige Haselmaus, lernten verschiedene bunte Schmetterlinge kennen und setzten sich rote Marienkäferchen auf die Fingerspitzen, um sie fliegen zu lassen.
Staubig, mit schmutzigen Fingern, durstig und vergnügt kehrten sie am Nachmittag in den Hof zurück und wurden auf dem Rasen unter den Kastanienbäumen mit kaltem Tee, Mandelkuchen und Erdbeeren mit Sahne empfangen. Anschließend wollten Graciella und Marie-Anna ausreiten. Rosemarie verzichtete darauf. Sie hatte die Großmutter gebeten, sie in die Kunst der Potpourri-Herstellung einzuweihen und wollte wohlriechende Kräuter und Blumen
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