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Der Lilienring

Titel: Der Lilienring Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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Scherben mit einem Relief aus Rankenmustern und mit einer durch eine rote Engobe versiegelten Oberfläche. Von den alten Gebäuden hingegen gab es ansonsten keine sichtbaren Spuren mehr. Dafür hatte irgendwann im Laufe der Jahrhunderte ein standesbewusster Besitzer einen runden
Turm an das Haupthaus angebaut, wohl um dem Anwesen den Charakter einer Ritterburg zu geben.
    Umgeben war das Gut von Weiden und Feldern, und an der Westseite schloss sich der Wald an. Es gab nicht nur das Herrenhaus, in dem die alten Raabes lebten, sondern auch Scheuern und Ställe, eine Remise, das Gesindehaus und das Haus nebst Kontor des Verwalters und seiner Familie. Alle diese Gebäude umgaben einen rechteckigen Hof, an dessen einer Seite ein Brunnen mit Trog und Pumpe stand. Das Herrschaftshaus war geräumig, komfortabel, aber ländlich eingerichtet. Es gab zwei Kammern in den Mansarden für die Besucher, groß genug, dass Rosemarie, Marie-Anna und Graciella sich in der einen einrichten konnten, Berlinde mit den Kindern in der zweiten. Im Turmzimmer würde Valerian Raabe wohnen.
    Mit viel Gelächter und Gealbere nahmen die drei jungen Frauen ihren Raum in Besitz und verwandelten sich von mondänen Stadtfräuleins in zünftige Landmaiden. Marie-Anna fühlte einen Hauch von Heimweh, als sie die schlichten Kleider anzog und die derben Schuhe über die Füße streifte. Es war lange her, dass sie in ländlicher Umgebung geweilt hatte, und mit Wehmut dachte sie an die weiten, blühenden Wiesen, die windgepeitschten Hecken und die lang gezogenen Strände ihrer Heimat. Hier gab es ebenso Weiden und Felder, doch sie waren sanft gewellt und nicht durchsetzt von rund geschliffenen Granitfelsen. Es gab den breiten Fluss, doch nicht die flimmernde Weite des blauen Meeres. Aber es gab den Wald, und er dünkte sie seltsam geheimnisvoll und verlockend.
    Sie flocht ihre Haare zu einem einfachen langen Zopf und ließ ihn über den Rücken baumeln. Rosemarie und Graciella taten es ihr gleich. Dann erkundeten sie den Hof und die Ställe. Abends gab es ein einfaches, aber gut
zubereitetes Mahl, und die Großeltern behandelten ihre Gäste mit unkomplizierter Herzlichkeit. Yannick und Guenevere waren schon vor Sonnenuntergang rechtschaffen müde, und auch die anderen hatten kein großes Verlangen mehr nach abendlicher Unterhaltung.
    In den nächsten Tagen unternahmen sie ihre ersten Ausflüge zu Pferd. Graciella war eine gute, manchmal übermütige Reiterin, Rosemarie eine etwas ängstliche und Marie-Anna, nachdem sie sich wieder an diese körperliche Anstrengung gewöhnt hatte, eine begeisterte Reiterin. Berlinde schloss sich diesen Ausflügen nicht an, sie hatte Nadelarbeiten mitgenommen und stickte an einem Gobelin, während ihre beiden Kinder mit den gleichaltrigen Sprösslingen des Verwalters herumtollten.
     
    »Das machst du nicht! Nein, das wagst du nicht!«, quiekte Graciella, als Marie-Anna am vierten Tag ihres Aufenthaltes einen der Herrensättel auf die lebhafte braune Stute legte.
    »Doch, ich wage es, Ciella. Es ist nämlich viel sicherer, rittlings auf dem Pferd zu sitzen.«
    »Aber man sieht doch deine Beine!«
    Marie-Anna lüpfte die Röcke.
    »Hosen? Woher hast du Hosen?«
    »Habe ich mir genäht.«
    »Lieber Himmel, wenn das Tante Berlinde sieht!«
    »Sieht sie ja nicht. Ich trage schließlich den Rock drüber.«
    »Ich nehme auch den anderen Sattel!«
    »Dann sieht man aber deine Beine, Ciella.«
    »Moment!«
    »Ciella, was hast du vor?«
    Das Mädchen war schon auf dem Weg, um ins Haus zu laufen. Marie-Anna ließ die Stute im Stall stehen und
eilte ihr hinterher. Sie fand Graciella in dem bisher noch unbewohnten Turmzimmer in einer Truhe wühlen.
    »Hier verwahrt Großmutter Raabe die Sachen, die Papa früher getragen hat. Schau mal, diese Hose müsste mir passen.«
    »Der Stil weist darauf hin, dass dein Herr Papa von klein auf ein Sansculotte war!«
    »Na, zumindest hier auf dem Land hat er wohl kaum seidene Kniehosen getragen. Sie ist ein bisschen lang, aber ich werde sie umschlagen. Siehst du, es geht, wenn ich sie mit diesem Band in der Taille festbinde. Jetzt zeig mir, wie man im Herrensitz reitet.«
    »Gerne. Den Rock ziehst du besser drüber, aber die Unterröcke kannst du hier lassen. Wir werden die Pferde am Zügel aus dem Hof führen, sonst bekommen Berlinde und wahrscheinlich auch deine Großeltern einen Schock!«
    Graciella stellte sich nicht ungeschickt an, und Marie-Anna genoss es, ihr Pferd unter besserer Kontrolle zu

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