Der Lilienring
die wahre Anita fotografieren wollte, dann musste er es schon mir überlassen, wie ich mich gab. Ich lauschte der Musik, der CD-Wechsler hatte auf ein Album mit bittersüßen Chansons umgestellt, die meiner Stimmung mehr entgegenkamen als der süßliche Kuschelrock. Meine Gedanken wanderten wieder zurück in die Vergangenheit, zurück zu den Bildern des alten Grabes, zu der kunstvoll getöpferten Schale mit dem willentlich herbeigeführten Sprung.
»Was alles wusstest du, Julian? Konntest du wissen, dass ich ebenfalls einmal eine Narbe im Gesicht tragen würde? Julian, erst mit deinem Tod erhielt ich die Narbe.«
Ich merkte, wie das Blitzlicht wieder und wieder aufflammte, doch Marc sprach kein einziges Wort. Er war vollkommen still. Ich vergaß die Kamera wieder. Ich vergaß, wo ich war, und dachte an die Nacht zurück, an das seltsam unbefriedigende Erlebnis, das mir ein überaus gut aussehender, vermutlich heftig in mich verliebter junger Mann beschert hatte. Warum fühlte ich mich so erloschen in seinen Armen? War die Leidenschaft in mir mit der Wehmut erstorben? Traurig fuhr ich mir mit den Händen über die Stirn und breitete meine Haare aus.
Und dann erklang es – das »Lied«.
Denises schöne Stimme sang, und ich sah ihn plötzlich vor mir.
Valerius.
Die Flamme zuckte heiß auf und überwältigte mich. Schauder fuhren über meinen Körper, ich bewegte den Kopf heftig, wie um der Erkenntnis auszuweichen, und meine Haare fielen vorne über meine Brust. Ich richtete mich auf, warf sie wieder nach hinten, zog die Knie an und stützte mein Kinn auf die Hände.
Sie war nicht erloschen, die Leidenschaft. Nein, kein bisschen. Sie war da, und sie schmerzte. Die Sehnsucht nach ihm schmerzte so sehr, dass mir die Tränen über die Wangen flossen.
Das »Lied« war zu Ende, das Licht veränderte sich plötzlich.
»Hier, Süße.«
Marc reichte mir ein Papiertuch. Ich wischte mir die Tränen ab und sah ihn an. Heiser klang meine Stimme, als ich fragte: »Authentisch genug?«
»Du bist hinreißend, Anita. Lag das an der Musik?«
Ich nickte stumm.
»Das Lied bedeutet dir sehr viel, nicht wahr?«
»Es ist das Letzte, was mein Vater komponiert hat, Marc.«
Er streichelte meine Haare und zog mich an sich. Tröstend, brüderlich.
»Armes. Solche Trauer wollte ich nicht in dir wachrufen. Geht es wieder?«
»Ist schon o.k. Aber jetzt sollten wir Schluss machen.«
»Natürlich. Ich mache die Abzüge für dich gleich heute Nachmittag. Soll ich sie dir abends vorbeibringen?«
»Da bin ich schon fort, Marc.«
»Fort?«
»Urlaub, mein Lieber. Oder auf der Flucht, wenn du so willst. Damit du nicht ständig in Prügeleien mit der Journaille verwickelt wirst.«
Er nickte.
»Das mag ganz klug sein. Wohin geht’s?«
Es lag wohl keine große Gefahr darin, wenn ich Marc den stecknadelgroßen Punkt auf der Landkarte nannte, den wir aufsuchen wollten.
»Ile de Sieck.«
»Klar, dahin fährt heuer jedermann.«
Ich wunderte mich, dass er nicht weiter nachfragte. Erstaunlich, wie sehr man Menschen unterschätzen konnte.
Ich ging alleine in der Stadt essen und traf kurz vor Denise zu Hause ein.
»Du siehst ein bisschen müde aus, Anahita.«
»Ich habe ja in der Nacht auch Samariterdienste leisten müssen und gerade eine ausgiebige Fotosession hinter mich gebracht. Einen Kaffee?«
»Mit Vergnügen.«
»Rose und Cilly kommen auch gleich. Wir fahren nachher los. Entschuldige, dass wir nicht so viel Zeit haben, aber ich möchte gerne vor zehn Uhr abends in Caen sein.«
»Es klappt mit dem Ferienhaus?«
»Kein Problem. Sogar in dem Ort, den wir uns gewünscht hatten.«
Meine Schwester klingelte, Cilly kam mit breitem Grinsen mit ihr ins Zimmer.
»Dem Joch entronnen. Zwei Wochen Ferien außer der Reihe!«, jubelte sie.
Rose allerdings musterte mich kritisch, und ich wiederholte
den Hinweis auf eine arbeitsreiche Zeit, die hinter mir lag.
»Was hat dich zur Samariterin werden lassen?«
Ich erzählte es ihnen. Cilly zuliebe ließ ich einen Teil der Geschehnisse fort. Warum ihr wehtun?
»Tja, ich habe ihm schließlich das Versprechen abgenommen, die Abzüge von den Fotos an Valerius zu schicken. Ich hoffe, er hält sich dran.«
Denise, die zwischen den Zeilen hören konnte, biss sich leicht auf die Unterlippe.
»Hast du an seinen Stolz appelliert?«
»Nicht zu ausdrücklich.«
»Macht er gute Fotos?«
»Ich denke schon. Ich habe einen Bildband mit Landschaftsaufnahmen von ihm, aber wie er bei Portraits
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