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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: weissbooks
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dem Teufelsberg näherten, hörten sie Schreie, die so wild und verzweifelt waren, dass jeder dachte, auf dem Teufelsberg würde jemand bei lebendigem Leibe gehäutet. Die Stimme dieses Unglückseligen wurde rasch und einhellig erkannt: »Das ist ja der Bucklige Norbert!«
    Der Teufelsberg, bewacht von dem Goethe-Denkmal der Ostpreußen, war bloß ein unbeholfener Name für den mit Bäumen bewachsenen und zirka zwanzig Meter hohen Erdhügel, der mitten in einem Hain von Laub- und Nadelbäumen stand. Ein Deutscher oder vielleicht ein Ukrainer oder ein Jude hatte sich diesen Namen ausgedacht, damit die Menschen vor dem Stadtwald Angst hatten und ihn nie allein betraten, sondern immer in Begleitung von guten Freunden. Man konnte den Erdhügel innerhalb weniger Minuten aufrecht gehend erklimmen, und die Äste der Sträucher und Bäume benutzte man wie ein Treppengeländer.
    Onkel Fähnrich parkte den Geländewagen mit dem Pferdeschlitten auf der Lagefeuerwiese der Pfadfinder. Er und sein Gefreiter liefen auch sofort los, um nachzuschauen, warum der Sohn von Herrn Lupicki für einen so unmenschlichen Lärm sorgte. Unterwegs bückte sich der Funker aus der Gelben Kaserne kurz und griff mit der Hand nach dem Schnee, als wollte er einen Tennisball formen, dabei musste er lediglich seine Stirn und Schläfen kühlen: Das hysterische Geschrei des Buckligen Norbert machte ihn offensichtlich nervös. Er und sein Gefreiter erklommen rasch den Teufelsberg, ihnen folgten Onkel Versicherung und Bartek. Quecksilber und seine Cousine mit den beiden Vettern überholten sie aber auf halber Strecke, und ihre Mütter und selbst Oma Olcia eilten hinter ihnen her, mehr aus Sorge um ihre Sprösslinge als aus Neugier, was denn dem kranken und debilen Schustersohn zugestoßen sein mochte. Opa Franzose bestieg zuletzt den Erdhügel; schnaufend und fluchend kam er auf dem Plateau des Teufelsbergs an und sagte mit leiser Stimme: »Schaut euch bloß diese elende Kreatur an!«
    Der Bucklige Norbert wurde augenblicklich still, als er die Ausflügler mit besorgten Rettungssanitätermienen auf sich zusteuern sah, und sein Anblick ließ keine Zweifel daran aufkommen, dass der Sohn von Herrn Lupicki Todesängste hatte ausstehen müssen: Er war mit einem Seil an eine Eiche gefesselt worden, und erst beim genaueren Hinsehen stellte man verwundert fest, dass jemand ein Brett an den Baum waagerecht genagelt hatte, um Norberts Arme an den Handgelenken mit einer Wäscheschnur festzubinden.
    »Was für eine elende Kreatur …«, wiederholte der Franzose unablässig, während sich Olcia mehrmals bekreuzigte: » Jezus Maryja! Der Ärmste! Was sind das bloß für Ganoven und Scheusale, die unseren Herrn Jesus verhöhnen und andere Menschen so grausam quälen?! Lupickis Sohn ist doch kein Hund! Und überhaupt: Wo sind heute die Sonntagsspaziergänger geblieben? Wären wir nicht auf die Idee gekommen, in den Wald zu fahren, hätte der Bucklige diese Nacht nicht überlebt!«
    »Lupickis Sohn ist ein kranker Perversling, das habe ich euch schon immer gesagt, aber ihr wolltet mir ja nie glauben«, freute sich Onkel Versicherung.
    »Ja, genau – er hat sich selbst gefesselt«, entgegnete Barteks Mutter.
    Der Franzose sagte: »Männer! Bindet ihn endlich los!«
    Onkel Fähnrich und sein Gefreiter durchschnitten mit Klappmessern die Seile und Schnüre, befreiten Norbert aus den Fesseln, und Barteks Mutter zog ihren Wintermantel aus und warf ihn dem Buckligen über die Schultern. Seine Lippen und seine Nase waren vor Kälte blau angelaufen, die Augen guckten gläsern und verängstigt, aber er konnte wieder lachen, wobei er dabei kräftig von Quecksilber, seiner Cousine und den zwei Vettern unterstützt wurde. Tante Hania und Tante Agata hatten angesichts des Leids, das dem Buckligen widerfahren war, kein Verständnis für dieses Lachen. Sie stauchten ihre Kinder zusammen und schlugen ihnen auf die Finger, als hätten die zarten Händchen Kleingeld für Süßigkeiten stibitzt. Stasias Schwestern überfielen Norbert mit kriminalistischen Fragen, obwohl sie wussten, dass er sich bei solchen Kreuzverhören immer in die Enge getrieben fühlte. Der Bucklige verbeugte sich mehrmals und wiederholte seine Standardsätze: »Norbert hat eine böse Strafe verdient! Norbert hat eine böse Strafe verdient! Norbert zas ł u ż y ł na t ę straszn ą kar ę !«
    Bartek hatte Mitleid mit seinem Freund. Er ahnte schon, dass es den Schwestern seiner Mutter gar nicht um das Wohlergehen des

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