Der Lippenstift meiner Mutter
Sohnes von Herrn Lupicki ging, sondern um ihre Selbstdarstellung. Stasias Schwestern wollten mit ihrem forschen Vorgehen bei dem Franzosen und bei ihren Ehemännern Eindruck schinden, wollten ihnen beweisen, dass sie nicht nur exzellente Erzieherinnen, Schneiderinnen und Liebhaberinnen waren, sondern auch fürsorgliche Mütter, die in unvorhersehbaren Situationen uneigennützig handelten. Bartek musste wieder lachen, und er bekam sogleich für sein Gelächter eine Ohrfeige von Tante Hania, was ihn gar nicht aus der Ruhe brachte, im Gegenteil − diese Ohrfeige machte ihn stolz (ich bin ein erwachsener Mann, dachte er sich, und erwachsene Männer werden von Frauen geohrfeigt!), sie klebte an seiner Wange wie ein heißer Kuss seiner Meryl Streep.
Eine Kreuzverhörfrage konnte der Bucklige Norbert eindeutig beantworten: Die beiden jüngeren Schwestern wollten wissen, wer ihn denn in den Stadtwald entführt und an den Baum gefesselt hätte. Herrn Lupickis Sohn sagte: »Schtschurrrk! Schtschurrrk … Schtschurrrk … Norbert hat eine böse Strafe verdient!«
»Ist ja gut, man wird von deiner Litanei ganz verrückt«, beruhigte ihn Onkel Versicherung. »Ich werde mir noch heute Abend diesen kleinen Hurensohn von Biurkowski vorknöpfen und ihm auf dem Friedhof den Arsch ver…«
Doch er musste seine Drohung, die er wie alle seine Drohungen nicht in die Tat umsetzen würde, unterbrechen, denn plötzlich begann der Bucklige in ganzen Sätzen zu sprechen. Allerdings stellte es sich schnell und zur Verwunderung seiner Zuhörer heraus, dass Norbert nichts anderes tat, als aus der Bergpredigt des Matthäus-Evangeliums zu zitieren, das zur täglichen Lektüre seines Vaters gehörte. Es handelte sich um Kernsprüche, die er in der Schusterwerkstatt schon hundertmal gehört hatte: »Ihr seid das Salz der Erde … Niemand kann zwei Herren dienen … Ihr seid das Licht der Welt … Sammelt euch nicht Schätze hier auf der Erde … Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen… Hütet euch, eure Gerechtigkeit vor den Menschen zur Schau zu stellen …«
Oma Olcia kniete vor Norbert nieder, faltete die Hände zum Gebet und blickte in den Himmel, der sich mit Schneewolken bedeckt hatte. Sie sagte: »Heilige Maria, Mutter Gottes! Es ist ein Wunder geschehen! Der Bucklige Norbert, der Sohn des Schusters Lupicki, unser Bote und Stadtidiot, den Du – Gebenedeite − ja bestens kennst, kann sprechen, wie wir es tun, die wir gesund sind und nicht leiden müssen! Er hat Gebete auswendig gelernt! Gebete aus der Bibel!«
»Schweig du dummes Weib!«, erboste sich Opa Franzose und half ihr wieder auf die Beine. »Schtschurek, das arme Totengräberkind, hat Nobert so mächtig Angst eingejagt, dass er gleich sogar ein Liebesgedicht von Goethe rezitieren wird, und nur aus dem Grund, weil hier im Stadtwald das große Dichterdenkmal steht! Aber wem erkläre ich das?! Wem?! Und wozu habe ich mir gestern die Mühe gemacht, Schtschurek aus dem Gefängnis rauszuholen? Wozu, wenn er sich gleich am nächsten Morgen ein leichtes Opfer sucht, um sich zu rächen?«
Kapitel 14: Verführung und Rache
Die Schulappellmontage musste man als die eigentlichen, die wichtigsten und wahrhaftigsten Uhren von Dolina Ró ż betrachten: Sie maßen die Zeit, in der Bartek und seine Freunde lebten, am genauesten. Die Schulappellmontage erinnerten die Schüler an die glorreiche Vergangenheit ihres Vaterlandes. Und derart beladen mit der glorreichen Vergangenheit ihres Vaterlandes sollten die Schüler nach jedem dieser Montage zuversichtlich in die Zukunft schauen, um eine neue und ebenfalls glorreiche Zukunft zu schaffen, die sich der makellosen Vergangenheit ihrer sozialistischen Heimat nicht zu schämen bräuchte. Fleißige Packesel sollten die Schüler werden und ihre Last stolz und mit heroischer Ausdauer tragen − von Woche zu Woche, von Schuljahr zu Schuljahr. Die Turmuhr des mittelalterlichen Tors war angesichts der historischen Tatsachen wenigstens so freundlich, praktisch für immer zu verstummen, in einer eingefrorenen Zeit des Deutschen Ritterordens zu verharren und zu schlafen. Diese alte Zeit der Kreuzritter und ihres erlauchten Hofmeisters Dietrich von Altenburg schlief in einem indischen Schlangenkorb und wartete auf den Tag der Befreiung, an dem der richtige Schlangenbeschwörer endlich auftauchen würde, doch jenes unvorstellbare Aufwachen einer vor Jahrhunderten begrabenen Morgenröte lag noch in weiter Ferne, zumindest solange Dolina Ró
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