Der Lippenstift meiner Mutter
ż von der Partei und auch von Marcin und seiner Bande regiert wurde.
Woche für Woche wurden die Schulfahne und die Nationalflagge aus dem Gedenkzimmer feierlich herausgetragen, besungen, bekniet und geküsst. Es könnten auch Hitlerjungen oder Ritter des erlauchten Hofmeisters Dietrich von Altenburg sein, dachte das Schusterkind, sie würden genauso gut ihre Arbeit erledigen, würden ihre Standarte in den Festsaal der ehemaligen Wehrmachtskaserne tragen, singen und ihre Partei und ihren Hofmeister loben. »Volksgenosse! Ihro Gnaden, ehrwürdiger König der Pruzzen!«, würden die Hitlerjungen und Kreuzritter dann dem Stadtwald von Rosenthal zurufen. »Stoßt bloß nicht zu uns! Bleibt im Wald! Versteckt Euch vor unseren Schwertern und Pistolen!« Aber das Windrad der Geschichte hatte sich für die sozialistischen Fahnenträger entschlossen, für die Pfadfinder Bartek und Anton, für die Fabrikund Schuldirektoren, die von der Partei gewählt worden waren; es hatte sich für die alkoholischen Orgien im Piracka , im Parteigebäude und Kulturhaus von Dolina Ró ż entschieden.
Bartek bekam wacklige Knie, als der Montagsappell im großen Festsaal des Mechanischen Technikums zu Ende gegangen war. Nach der Pause würde die zweite Stunde beginnen – der Polnischunterricht. Er hatte keine Angst davor, für seinen Aufsatz über die Heimatbilder in den Gedichten der Stalinistin eine schlechte Note zu kassieren. Die wackligen Knie waren auf eine andere Ursache zurückzuführen. Er fürchtete vielmehr, von dem Mahlstein mancher Mitschüler, die er nie mit in den Krieg nehmen würde, zerquetscht und zerrieben zu werden. Diese skrupellosen und feigen Mitschüler hassten das dichterische Wort, und sie hassten es deswegen, weil sie vor ihm unterwürfig niederknien mussten, und zwar auf Verlangen von »Frau Aquarell und Kolibri«, der Polnischlehrerin. Vor diesem heiligen Niederknien hatte Bartek ebenso wenig Respekt wie seine Gegner, aber es gefiel ihm nicht, wenn er, musste er mal wieder vor der ganzen Klasse seinen Aufsatz vorlesen, von den feigen und hasserfüllten Mitschülern wie ein nackter Frauenhintern im Gebüsch angeschaut wurde. Er hörte ihr spöttisches Flüstern, sah ihre dummen Augen, hörte ihre giftigen Zungen zischen, die nur eines im Sinn hatten: den Autor des Aufsatzes zum impotenten und lebensuntauglichen Muttersöhnchen zu degradieren, das sich heimlich mit dem Lippenstift seiner Mutter den Mund schminkt. »Schusterkind, Schusterkind!«, summten sie ihr Klagelied im Geiste. »Du glaubst wohl, dass du ein Günstling des Schicksals bist! Du irrst dich! Du wirst genauso wie wir im Dreck schuften müssen, du wirst von morgens bis abends Bohrer schärfen, Drehmaschinen putzen und Türschlösser bauen, die keiner kaufen will. Deine Finger werden von Metallsplittern hässliche Narben bekommen. Wodka wirst du trinken, Kinder zeugen und für kleines Geld den Rücken krumm machen. Arbeiterhände hast du, ja, Arbeiterhände! Aus Eisen bist du, aus Eisen! Und nicht aus dem dichterischen Wort! Oder willst du nicht mehr Techniker für landwirtschaftliche Maschinen werden?«
Bartek rauchte auf der Toilette eine Zigarette, um das Lampenfieber zu bekämpfen. Wenigstens war es seinem Opa Franzose am gestrigen Abend gelungen, Herrn Lupickis Nerven zu beruhigen, nachdem der alte Schuster seinen halberfrorenen Sohn in Empfang genommen hatte. Bartek und Onkel Fähnrich waren bei dieser feierlichen Übergabe dabei gewesen. Gäste waren Herrn Lupicki unangenehm, er empfing sie selten, und seine Dreizimmerwohnung im Altbau verteidigte er wie die Totenkammer in seiner Werkstatt.
Dass sein Sohn offensichtlich lernfähiger war, als man das bis jetzt angenommen hatte, beeindruckte ihn nicht: »Er mag zitieren, was er will: meinetwegen auch aus der Bibel. Ich werde Schtschureks Schuhe weiterhin reparieren! Und Wunder gibt’s nicht: Norbert wird morgen von seiner Genesung nichts mehr wissen. Er wird wieder alles vergessen! Vielleicht wurde er zu Recht gekreuzigt, dieser Lümmel!«
Der alte Schuster wollte keine Anzeige erstatten; es wäre sinnlos gewesen, wenn er sich entschlossen hätte, juristisch gegen Schtschurek vorzugehen. Die Miliz hätte dem alten Schuster einen Vogel gezeigt, ihre Meinung war unmissverständlich, was die täglichen Aktivitäten des Buckligen Norbert betraf. Für sie war er selbst schuld daran, dass er ab und zu durch die Mangel genommen und wie eine räudige Katze behandelt und sogar gequält wurde –
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