Der Lippenstift meiner Mutter
man der sozialistischen Wirtschaft schadet, desto schneller werden die Herren in Warschau aufwachen und begreifen, dass uns nur der Kapitalismus retten kann!« Er war sehr enttäuscht darüber, dass ihm der Funker von der Gelben Kaserne zuvorgekommen war und kulig , eine Schlittenfahrt, für den Franzosen organisiert hatte. »So eine Überraschung«, sagte er zu seinem Schwager, »und so ein Geschenk hätten normalerweise von mir kommen müssen. Funker – ich muss dich loben, ich wusste gar nicht, dass du unseren Schwiegerpapa so sehr liebst …«
Barteks Vater hasste große Familienfeiern, und im passenden Moment, als alle voller Freude zum Fenster im Wohnzimmer geeilt waren, um nachzuschauen, ob der Geländewagen mit dem Pferdeschlitten schon gekommen war, sagte er mit ernster Stimme, er werde an der Schlittenfahrt nicht teilnehmen, er habe Kopfschmerzen, und außerdem werde er von seiner Mutter erwartet, der er versprochen habe, auf einen Kaffee und eine Runde Bridge oder Poker vorbeizukommen.
Die sonntäglichen Besuche bei Oma Hilde waren Stasia ein Dorn im Auge. Barteks Mutter langweilte sich schrecklich bei diesen sogenannten Stippvisiten und kam deshalb oft nicht mit zu ihren Schwiegereltern − sie spielten stundenlang Karten mit den Nachbarn, tranken pausenlos Kaffee und Eierlikör und führten abstruse Gespräche, die immer die gleichen Themen behandelten und lauter unbeantwortete Fragen aufwarfen. War Herr Lupicki Jude oder Ukrainer? Hätte Jaruzelski das Kriegsrecht nicht eingeführt, wären dann die Sowjets zusammen mit ihren ostdeutschen Waffenbrüdern in Polen einmarschiert? Gab es Außerirdische? War Mariola eine Hure? Spukte es in der Totenkammer der Schusterwerkstatt? Waren Deutsche, Russen und Ukrainer von Natur aus böse? Oma Hilde behauptete, ihre Landsleute, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Rosenthal geblieben seien wie sie selbst und sich nicht schriftlich zum Polentum hätten bekennen wollen, habe man so lange gefoltert, bis sie die Erklärung unterschrieben hätten. Auch sie sei geschlagen und gefoltert worden; sie behauptete sogar, der Franzose habe an diesen Aktionen gegen die Deutschen und Masuren teilgenommen, er sei einer der Henker gewesen, wovon er heute nichts mehr wissen wolle. Niemand glaubte ihr, wenn sie ihre alten Geschichten ausgrub und quälende Fragen stellte. Von Zeit zu Zeit legte sie für ihre Freundinnen Karten und las ihnen die Zukunft. Meistens sagte sie, dass alles sich zum Guten wandeln würde, und wenn ihre Freundinnen wieder nach Hause gegangen waren, erklärte sie ihrem Mann, sie befürchtete Schlimmes, die Karten hätten ihr lauter Grausamkeiten und Schicksalsschläge offenbart, die bald einträten; der Tod sei nahe, er klopfe schon an die Türen. Monte Cassino schüttelte nur den Kopf und zuckte mit den Schultern. Angst bekam er nur dann, wenn Hilde wieder damit anfing, Stimmen von Verstorbenen aus ihrer Verwandtschaft und ihrem Freundeskreis zu hören. Er glaubte ihr zwar nicht, obwohl er selbst in der Totenkammer der Schusterwerkstatt Gespräche mit seinen gefallenen Kameraden führte, doch die Angst vor dem Unbekannten und Unbegreiflichen vergrub sich tief in seiner Seele, wenn er tagelang dabei zusehen musste, wie seine Frau ihr Zimmer nur für die Toilettengänge verließ und ansonsten in völliger Dunkelheit lebte, in der geistigen Umnachtung des kalten Winters und schwarzen Nachtfeuers. »Sie ist ein Drachen, aber ein kranker Drachen«, jammerte Monte Cassino. Eine Sache aber fand das Schusterkind erstaunlich: Oma Hilde legte nie für sich selbst oder für ihren Mann die Karten, nicht einmal eine Patience, ja, sie wollte auch in Barteks Zukunft keinen Blick werfen. Sie sagte, dass man in seinem eigenen Essen nicht herumstochern dürfe, es würde den Betroffenen Unglück bringen.
Der Pferdeschlitten, der eher einem Holzboot ähnelte als einer Kutsche, war mit drei Sitzbänken bestückt, sodass jeder leicht einen Platz finden und bequem sitzen konnte, und da der Weg zum Teufelsberg im Stadtwald durch das ganze Städtchen führte, blieb die Schlittenfahrt von Olcias Töchtern nicht unbemerkt. Bis auf Barteks Vater waren alle mitgekommen, selbst Oma Olcia hatte sich zu diesem Ausflug überreden lassen, wie in alten Zeiten saß sie neben ihrem Mann, geschützt und gewärmt von seinen Armen und ihrem Pelzmantel, der älter war als das Schusterkind. Für die Kleinen, für Quecksilber und seine Cousine und Vettern, war die Schlittenfahrt eine Wohltat wie die
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