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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: weissbooks
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Weihnachtsferien. Und da spätestens um siebzehn Uhr die Nacht ihre Reiter und Fußtruppen ins Lunatal schicken würde, um das Städtchen mit Gewalt zum dunklen Schlaf zu zwingen, musste man sich beeilen.
    Onkel Fähnrich vertraute den Fahrkünsten des jungen Gefreiten nicht allzu sehr, denn bald schon setzte er sich ans Steuer des Geländewagens. Entlang des Broadways blieben viele Passanten stehen, klatschten Bravo oder grüßten freundlich den Franzosen und seine Frau.
    Onkel Fähnrichs Überraschungsgeschenk zeigte schnell seine positive Wirkung auf den Franzosen, der aussah, als hätte er hundert Gramm gekippt und den bitteren Wodkageschmack mit einer Salzdillgurke abgerundet, um anschließend mit seiner Geliebten, der Frau des Friseurs, ins Bett zu schlüpfen. Barteks Opa lächelte freudig und sagte: »Ach! Wie schön unser Städtchen ist! Und wie schön sind die roten Bäckchen meiner schwarzen Prinzessinnen und Enkelkinder! Wie gern wäre ich für immer bei euch geblieben! Wie gern!« Und dabei log er nicht, der Opa Franzose; er wollte nicht mehr reisen, von Zuhause fliehen, nach einem neuen Zuhause suchen − das musste inzwischen auch seinen zänkischen Töchtern bewusst geworden sein −, doch eine endgültige Rückkehr nach Dolina Ró ż und zu Oma Olcia war dem Franzosen dennoch nicht mehr möglich, weil er sich dann hätte eingestehen müssen, die wichtigste Schlacht seines Lebens verloren zu haben. Eine endgültige Rückkehr hätte für ihn Verrat an sich selbst, an seinen Ideen und an seiner blauen Eisenbahneruniform bedeutet. Eine solche Niederlage hätte all die Jahre, die er in der Fremde und in Einsamkeit, auf Reisen und mit einer zweiten Familie verlebt hatte, von der Erdoberfläche wegradiert. Bartek zumindest hatte sofort begriffen, was sein Opa zum Ausdruck hatte bringen wollen, als er am Mittagstisch sagte, er wäre längst ein Bewohner des Friedhofs an der Luna: für seine Nächsten nur mehr eine Erinnerung.
    Auf Barteks Stadtplan von Dolina Ró ż , den er einmal im Kunstunterricht angefertigt hatte, lag der Stadtwald hinter der Eisenbahnbrücke, eingeklemmt von der ehemaligen Wehrmachtskaserne und dem in der ermländisch-masurischen Regenwurm- und Hummellandschaft mäandernden Fluss Luna. Der katholische Friedhof, die Molkerei und der städtische Baggersee waren allesamt auf der anderen Seite der Eisenbahnbrücke zu finden – am Broadway , den Bartek als dicke rote Linie gezeichnet hatte. Seine Karte hatte eine schlechte Note bekommen; der Kunstlehrer hatte ihm vorgeworfen, sie wäre ungenau und infantil, und Barteks Gegenargument, die Wirklichkeit ließe sich gar nicht so abbilden, dass sie jedem einzelnen Erdling vom Nordpol bis zum Südpol gleichermaßen vertraut sein könnte, brachte den Kunstlehrer in Rage: »Willst du mir erklären, Schusterkind, was Wirklichkeit ist? Und willst du mir etwa sagen, dass du weißt, was Mimesis bedeutet?« Der Kunstlehrer hatte Bartek damit der Wirklichkeit und seiner eigenen Vorstellung von ihr beraubt, und somit lebte das Schusterkind ohne die richtige und unverfälschte Wirklichkeit und passte darauf auf, dass so gut wie niemand erfuhr, wie mickrig und ungenau und unbedeutend seine Vorstellung von der Wirklichkeit war. Niemand würde verstehen, dass die K ę trzy ń ska-Straße, der hiesige Broadway , für Bartek nicht nur die Hauptschlagader von Dolina Ró ż war, auch wenn die K ę trzy ń ska im Vergleich mit ihrem Original und Vorbild aus New York wie ein wahnwitziger und größenwahnsinniger Usurpator erscheinen musste: Der hiesige Broadway war für Bartek keine billige Nachbildung, kein unerreichbarer Traum, das Schusterkind lebte in seinem Städtchen wie in Manhattan, seine Mutter kaufte in den besten Boutiquen des echten Broadways ein, ihre rosafarbenen knielangen und plissierten Röcke waren mittlerweile berühmt geworden, und wenn Bartek keine Lust mehr auf das großstädtische Leben hatte, zog er sich aufs Land zurück – dann wurde das Lunatal zur mongolischen Steppe mit Jurten und Pferdeherden.
    Nach gut einer halben Stunde erreichte der von Onkel Fähnrich angeführte Ausflüglertrupp den Stadtwald von Dolina Ró ż . Die Tennisplätze und Parkanlagen, die an den Defilierplatz grenzten, waren seine kleinen Geschwister, ja, man konnte durchaus behaupten, dass der Stadtwald als der eigentliche Schöpfer des Bösen nur eine einzige Absicht hegte: Er wollte der unangefochtene Anführer von Mördern, Frauen- und Mädchenschändern, Dieben,

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