Der Lippenstift meiner Mutter
Untoten, Unruhestiftern und Schulschwänzern, die auf dem Teufelsberg ihre anarchistischen Feste feierten, sein. Und das war sein gutes Recht, denn in seinem Herrschaftsgebiet fanden sogar diejenigen eine Zuflucht, die niemandem einen Schaden zufügten: Junge Liebespaare, die von ihren Eltern behelligt wurden, zeugten hier ihre Kinder; Pilzsammler, Pfadfinder, Sportler und sogar Angler, die an den Ufern der Luna ihre Spinnruten auswarfen und mit dem Blinker einen ausgewachsenen Hecht fangen wollten, suchten hier nach Ruhe und Entspannung. Im Stadtwald herrschte also eine Freiheit, die es nicht einmal in dem Spielzeug- und Papiergeschäft gab. In gewisser Hinsicht ähnelte er der Schusterwerkstatt, die auch keine Unterschiede zwischen bösen und guten Schuhen machte.
Die Einfahrt in den Rosenthaler Wald bewachte eine deutsche Villa, die, wie man sagte, während des Krieges den Offizieren als Kasino und gar Bordell gedient hatte. Opa Monte Cassino verriet nur ungern seine militärischen Geheimnisse, er nannte aber die Villa einen Ort der Verruchtheit und des Untergangs. Pfadfinder residierten nun in der ehrwürdigen Wehrmachtsvilla, und wenn sie zu später Stunde von ihren Lagerfeuerfesten auf der riesigen Wiese am Teufelsberg zurückkehrten, übernachteten sie in ihrer Herberge, die von den Ostpreußen gebaut worden war.
Der Pruzzenkönig Widewut wohnte im Stadtwald und kam manchmal sogar in den Garten der Villa geschlichen, stellte sich auf Zehenspitzen vor eines der Erdgeschossfenster und hörte den patriotischen Gesängen und Rezitationen der Pfadfinder zu. Bartek, der immer noch seine Pfadfinderuniform besaß, hatte den Pruzzenkönig schon mehrmals in diesem Garten getroffen, meist zusammen mit seiner Tochter, der Prinzessin Gustabalda, und seinem Sohn, dem Prinzen Bartel. Die beiden unglückseligen Geschwister liebten einander wie Mann und Frau. Das Liebespaar war aus fünf Fuß hohen Feldsteinen gemeißelt worden − wie auch ihr Vater − und konnte weder Deutsch noch Polnisch und schon gar nicht Englisch sprechen, sodass das Schusterkind jedes Mal Meryl Streep ums Dolmetschen bitten musste, weil sie die Sprache der Steine verstand. Und die Steinskulpturen von Gustabalda und Bartel, die in Dolina Ró ż auf einem Hügel an einer Straßenkreuzung standen und auf die Tennisplätze und den Defilierplatz blickten, erzählten Bartek und Meryl die bittere Wahrheit über die Christen und ihre todesgierigen Schwerter, Pistolen und Atombomben. Der Pruzzenkönig Widewut hatte einmal im Garten der deutschen Villa zu Bartek gesagt: »Mein Volk kommt nicht von den Sternen, obwohl wir in unserem Wurm- und Hummelland die ersten Siedler gewesen sind. Der Mensch irrt, wenn er glaubt, von den Sternen abzustammen – nein, er ist noch vor ihnen, den Uhren des Universums, auf die Welt gekommen, als es nicht einmal unser Wurm- und Hummelland und in ihm unsere kleine Heimat, das Lunatal, gegeben hat. Sieh! Ich bin tot und ein Stein geworden, und dennoch lebe ich weiter und wache über Dolina Ró ż und den Stadtwald! Eines Tages wirst du mir helfen und auch ein Wächter werden – nach deinem Tod!«
Die Geschichten des Pruzzenkönigs Widewut, der von Zeit zu Zeit spontan die deutsche Villa besuchte, um im Garten Bartek zu treffen, waren vielen Bewohnern von Dolina Ró ż unbekannt, doch sie gefielen dem Schusterkind, und selbst seinem besten Freund, dem nüchternen und geschäftstüchtigen Anton, der sich aus Bildung nichts machte und auf Altäre der Kirche und des Staates spuckte, gefielen sie. Stasia mochte die Geschichten des Pruzzenkönigs auch sehr, sie kannte Widewut aus ihrer eigenen Schulzeit, und da ihr der Franzose erzählt hatte, dass der Prinz Bartel nicht nur ein treuer Liebhaber, sondern zugleich ein großer Volksheld und Gelehrter wie zum Beispiel Wojciech K ę trzy ń ski oder Hermes Trismegistos gewesen war, schwor sie sich, dass ihr erster Sohn den edlen Namen des pruzzischen Prinzen bekommen würde: Bart ł omiej erinnerte selbst in seiner einfachsten Koseform, Bartek, an den heidnischen Prinzennamen – damit war Stasia glücklich, als sie einen Jungen gebar, das Schusterkind, den Schusterprinzen. Dass der Prinz Bartel in seine eigene Schwester verliebt war, schien Stasia nicht zu stören: Die Wege eines Lippenstiftes waren genauso unergründlich wie die des Herrn von der St.-Johann-Kirche.
Im Stadtwald lag der Schnee an lichten Stellen hüfthoch, die Wege aber waren frei und gespurt. Als sich die Ausflügler
Weitere Kostenlose Bücher