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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: weissbooks
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schließlich war er ein Idiot, ein Dummkopf, ein polnisch-jüdischer Bastard.
    Die Miliz hatte Schtschurek längst abgeschrieben. Sie konnte ihm nichts beweisen, weder dieses noch jenes, vielleicht war er ein Tierquäler oder ein Molotowcocktailwerfer. Vielleicht verachtete er den Buckligen Norbert, weil der Sohn von Herrn Lupicki hässlich und dumm war, zumindest nach der Vorstellung und Meinung Schtschureks. Eines Tages würde Biurkowski junior einen großen Fehler begehen, und dann würde er ins Gefängnis wandern und die Gefängnismauern nie wieder verlassen. Darauf hoffte die Miliz.
    Es hatte auch keinen Sinn, mit dem Totengräber Biurkowski zu sprechen und ihn zu bitten, seinen Sohn streng zu bestrafen. Biurkowski hätte dann gesagt: »Ihr wisst doch, der Junge lässt sich nichts gefallen! Er tanzt jedem auf der Nase herum! Oder soll ich ihn etwa zu Tode prügeln? Auf meinem Friedhof gibt es noch viel Platz! Gewiss! Der Tod kommt schneller, als man denkt − mein Junge weiß es bloß noch nicht, wessen Kind er ist. Und selbst wenn er jemanden umbrächte, würde ich ihn nicht anzeigen und schon gar nicht mit meinem Spaten unter die Erde bringen können − solche Drecksarbeit müsste dann Gott persönlich übernehmen, ich liebe meinen Jungen!«
    Opa Franzose war auf sich selbst wütend, dass er den Fabrikdirektor Szutkowski am Samstagabend aufgesucht und ihn zu einem wichtigen Anruf bewogen hatte. Damit war eine Karte leichtsinnig ausgespielt worden, die er womöglich schon bald woanders, bei einem wichtigeren Spiel dringend brauchen könnte. Er ärgerte sich, weil er Schtschureks Vater sein Vertrauen geschenkt hatte. Und gestern Nacht, als Bartek mit seinem Opa im Bett lag und sie beide den Tag noch einmal hatten Revue passieren lassen, sagte ihm der Franzose, dass ihm seine eigene Dummheit bis jetzt immer die allergrößten Schwierigkeiten beschert hätte. Als das Schusterkind ihm dann von der »Unde-malum«-Aktion erzählt hatte, wurde es von seinem Opa ausgelacht: »Willst du so enden wie ich? Du bist moralisch nur dir selbst verpflichtet, sonst niemandem! Du musst lernen, mit Lichtgeschwindigkeit zu entscheiden, was für dich persönlich das Gute oder das Böse bedeutet. Wenn du das nicht tust, werden andere für dich diese Entscheidung treffen. Marcin − und ich habe dir schon einmal gesagt, dass dein älterer Freund mir nicht koscher ist − musst du nichts beweisen. Mein Gott! Ich habe schon so viele Brandsätze in meinem Leben gelegt, um die Welt zu retten – und bin doch jedes Mal das Opfer meiner eigenen Dummheit geworden! Also, lass die Finger von diesen Spielchen, die dir Marcin aufzwingen will – er ist ein Verführer, ein Diktator, ein zukünftiger Fabrik- und Schuldirektor und kein Schusterkind und kein Eisenbahner …«
    In dieser Nacht von Sonntag auf Montag hatte das Schusterkind von Golgota und der Kreuzigung Jesu Christi geträumt. Es war kein gewöhnlicher Jesus – dieser Jesus ähnelte frappierend dem Buckligen Norbert. Und in dem mittelalterlichen Tor von Dolina Ró ż öffnete jemand ein Fensterchen, ein Gesicht zeigte sich plötzlich und sprach zu Bartek: »Siehst du, Schusterkind! Der Sohn des alten Schusters leidet für Millionen! Für Millionen! Damit ihr weiterhin eure Molkereien und Möbel- und Textilfabriken und Einkaufsläden und Schulen und Apotheken und Schusterwerkstätten betreiben könnt, ohne die Angst im Nacken, dass es auf Erden einmal richtig krachen und das Lunatal vollständig vernichtet wird! Da habt ihr also euren Jesus! Hier, schaut: Er ist bucklig und ein bisschen dumm, aber leiden kann er − muss er! Er muss leiden! Für Euch!« Später erkannte Bartek, dass das Gesicht, das wie eine Maske aussah, am ehesten Opa Franzose zugeordnet werden konnte. Die Nase war ein bisschen zu groß geraten, und die Augen hatten nichts von ihrer einstigen dunkelbraunen Leuchtkraft eingebüßt, die den Franzosen einmal ausgezeichnet hatte.
    Bartek warf die brennende Zigarette, an der er nur wenige Male gezogen hatte, in die Klomuschel und ging zum Polnischunterricht. Nach der Begrüßung und der alphabetischen Anwesenheitsprüfung wurde er von »Frau Aquarell und Kolibri« aufgerufen, um bitte seinen Aufsatz vorzulesen. Und er stand auf und las, und in diesem Lesen las er weiter und wollte gar nicht mehr aufhören zu lesen.
    »Setzen, Bartek, setzen!«
    »Natalia Kwiatkowska, meine Nachbarin und einstige Physiklehrerin unseres Mechanischen Technikums, ist unsere größte

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