Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: weissbooks
Vom Netzwerk:
Aufknöpfen hörte selbst dann nicht auf, als Bartek gänzlich nackt war. Er schaute sich nur das Regal mit den vielen toten vergessenen Schuhen an, er schaute sie genau an, weil ihn die toten Schuhe auch penetrant anschauten, während er Mariola in seinem kleinen Schusterstaat gewähren ließ.
    »Mariola, Mariola!«, wiederholte er sinnlos ihren Namen.
    »Es soll dir nicht anders ergehen als mir«, sagte sie, »als ich mich meinem ersten Mann habe hingeben müssen, obwohl ich damals noch nicht so weit war. Du wirst zumindest keinem einzigen Mädchen schaden und wehtun – ich werde dir diesen Unsinn aus dem Kopf schlagen!«
    Und dann drehte sie sich über ihm, und sie drehte sich in alle Richtungen und ging in die Höhen und ging in die Tiefen und versteckte Bartek unter ihrem Nadelkissen. Er spürte auf einmal ihren kalten feuchten Lippenstift, der in ihn eindrang und in ihm sich drehte. Er warf ab und zu einen Blick auf die toten Schuhe im Regal an der Wand, er drehte sich in diesem Drehen Mariolas mit und war ganz erstaunt darüber, dass Mariolas Lippenstift so sehr demjenigen seiner Mutter oder ihrer beiden Schwestern ähnelte: Schließlich hatte er schon oft ihre Körper völlig nackt gesehen. Und dann wurde das Stöhnen der Tochter von Herrn Lupicki immer lauter, bis es unerwartet gänzlich verstummte; ihr Lippenstift zog sich wieder von allein in seine Erdhöhle zurück, dieser ungezogene Maulwurf, und Bartek musste schreien, und er schrie, so laut es nur ging, da ihn Mariolas Lippenstift von innen vollkommen ausgehöhlt hatte, als wäre er ein Kürbis. Dann schlief er augenblicklich ein.
    Im Traum behauptete ein Paar Damenstiefel von sich, es sei mit Meryl Streep befreundet: »Bartek, schlaf, Bartu ś , schlaf wie ein Stein! Deine Liebste hat dich nicht verraten – sie hat dich doch in der Totenkammer besucht! Hat es dir gefallen? Möchtest du immer wieder tun, was sie dir gezeigt und beigebracht hat?« − »Verschwindet!«, schrie Bartek. »Verschwindet!« Er öffnete die Augen. Wie lange mochte er geschlafen haben? Wo war er überhaupt?
    »Wach auf! Zieh dich an«, forderte ihn eine Männerstimme auf. »Los! Aufstehen! Zieh dich an!«
    Bartek rieb sich die Augenlider, blickte den alten Mann, der auf einem Hocker saß und mit ihm sprach, konsterniert an und schreckte aus seinem Halbschlaf auf. Er deckte sein Geschlecht mit seinem weißen Hemd zu und richtete sich auf dem Sofa auf.
    Herr Lupicki sagte: »Ich weiß nicht, was du hier in meinem Werkstattlager getrieben hast, aber du wirst dich jetzt anziehen und zu deinem Opa gehen – er braucht dich, und ich brauche ihn auch: Mach ihn mir wieder schnell gesund! Ohne Monte Cassino kann ich den Laden schließen! Ich kann es nicht zulassen, dass wir Schuster auf den Hund kommen! Meine Tochter hat mir übrigens in all dem morgendlichen Chaos eingeflüstert, du hättest dich bloß ein bisschen ausruhen wollen … Sie hätte dich auf dem ollen Sofa schlafen lassen.«
    Der alte Schuster stand auf und ging – er schloss auch die Tür, damit niemand einen neugierigen Blick in die Totenkammer werfen konnte.
    »Dieses schöne Biest«, sprach Bartek mit sich selbst, als er sich anzog. »Ich werde dich töten. Schtschurek hat Recht. Man muss euch alle umbringen …«
    Als Bartek in die Schusterwerkstatt trat, war Herr Lupicki mit seinen Kunden beschäftigt. Micha ł Kronek bediente die Nähmaschine. Norbert hörte Radio und aß an der Theke eine heiße Suppe.
    »Nun geh schon, Bartek, geh!«, verabschiedete ihn Herr Lupicki.
    Er rannte nach draußen. Es war schon spät − er hatte auf dem Sofa in der Totenkammer vier Stunden geschlafen. Er hatte Hunger, und einerseits war es ein gutes Gefühl, hungrig und ausgeschlafen zu sein – andererseits fühlte er in sich eine Leere, die er bis dato nicht gekannt hatte. Mariola hatte ihm etwas gestohlen, etwas, das in ihm an einem geheimen Ort gelebt hatte. Nun gab es diesen Ort und das Geheimnis nicht mehr. Wut und Leere saßen ihm schwer auf den Schultern wie zwei Tauben, die sich nicht verjagen ließen. Er ging mit diesen beiden Vögeln zu seinem Opa Monte Cassino, sie pickten ihm ins Gesicht, schlugen mit ihren Flügeln, hoben aber nicht ab. Sie erdrückten ihn, obwohl sie federleicht waren.
    Ich darf niemandem, aber auch wirklich niemandem – nicht einmal Anton oder Marcin – erzählen, dass auf meinen Schultern zwei Tauben sitzen und mich picken. Mariola will ich nie wieder sehen, ich werde sie töten, ich töte sie!

Weitere Kostenlose Bücher