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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: weissbooks
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Begegnung der dritten Art, weil er in dem menschenleeren dunklen und stinkenden Eisenbahntunnel für Schtschurek so etwas wie ein gefundenes Fressen war. Das Schusterkind sah seine Angst neben sich hergehen, sie hieß Bartek, war spindeldürr, fünfzehn Jahre alt und eins achtundsechzig groß. Reiß dich zusammen, dachte das Schusterkind, zeig deiner Meryl, dass du ein Mann bist! Clint Eastwood bist du doch! Rocky Balboa und Kurt Russel, der in »Die Klapperschlange« den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika vor dem sicheren Tod und die Menschheit vor dem Weltuntergang rettet! Schtschurek kam ihm immer näher, immer näher, ein Komet näherte sich der Erdbahn, ein Raumschiff würde bald auf Barteks Territorium landen und sein Volk angreifen. Er hatte Angst. Er richtete den Mantelkragen auf, verhüllte sich Mund und Nase mit dem Schal, senkte den Kopf und schaute auf den Boden. Ich gehe an Schtschurek vorbei, als würde ich ihn nicht kennen, so sprach seine ganze Körperhaltung.
    »Hey!«, sagte sein Feind, der sich direkt vor Barteks Nase aufbäumte und ihn zum Halten brachte. »Hey! Du Drecksack! Kennst du mich nicht mehr?! Ich bin’s – dein Schatten!«
    Bartek konnte seinen Atem riechen, Schtschureks Nase berührte den von Oma Olcia gestrickten Schal, seine Augen rollten wild.
    »Der Franzose hilft dir, holt dich aus dem Bunker raus, und das ist deine Bezahlung für diese selbstlose Hilfe? Was hast du Norbert angetan?«, fragte die Angst, die neben Bartek stand und seinen Namen trug.
    Biurkowskis Sohn packte das Schusterkind an den Schultern, schüttelte es mehrmals hin und her und sagte: »Ich habe in Gottes Namen gehandelt! Heute lass ich dich allerdings in Ruhe, ich bin in Eile, und falls du es noch nicht erfahren haben solltest: Dein Opa Monte Cassino, dieser Drecksack, wurde mit Blaulicht von der Schusterwerkstatt abgeholt – ich hoffe, dass dieser verdammte Faschist den Löffel abgibt …«
    Er spuckte Bartek ins Gesicht, traf sein rechtes Auge und brach in Gelächter aus. Dann zischte er endlich ab.
    Dem Schusterkind wurde es übel: Es hatte das Gefühl, als müsste es alles, was es je gegessen hatte, erbrechen, hier, im nach Säuferurin stinkenden Eisenbahntunnel. Bartek wischte sich den klebrigen Speichel mit dem Schal weg und wusch sich anschließend im Schnee die Hände und auch das Auge. Er hatte gesagt, was gesagt werden musste, und seine Angst vor Biurkowski junior hatte ihn letztendlich beschützt.
    Als Bartek den Broadway erreicht hatte, war er endlich in Sicherheit. Hier würde ihn Schtschurek nicht mehr angreifen, nicht vor all den Augen der Passanten, vor den Schaufenstern der Einkaufsläden und den Verkäuferinnen, die sich hinter den Fleischer-, Apotheken- und Bäckereitheken langweilten. Es könnte sein, dass Schtschurek ihm gefolgt war, und Bartek hatte es nicht einmal gemerkt. Es gab in Dolina Ró ż nur einen einzigen Menschen, vor dem Schtschurek Respekt und Furcht zeigte: Wenn Biurkowski junior dem Mörder und Kurpfuscher Baruch begegnete, wurde dieser Respekt sichtbar und hörbar – Schtschurek stand dann regungsund sprachlos und vor Glück schmatzend vor seinem Idol, das ein echter Mörder war und viele Jahre im Gefängnis gesessen hatte. Es verschlug dem jungen Biurkowski jedes Mal die Sprache, lief er dem Mörder Baruch direkt oder zufällig in die Arme – in der Schusterwerkstatt oder am Marktplatz, wo auch immer.
    Als Bartek die Schusterwerkstatt betrat, fiel ihm als Erstes auf, dass niemand hämmerte und die Schleif- und Nähmaschinen bediente. Zur Totenkammer stand die Tür halboffen, irgendjemand hatte vergessen, das Licht auszuschalten, aber es war auch dort mucksmäuschenstill. Wo waren die Schuster? Plötzlich hörte er aus der Dunkelheit des Schuhlagers die Stimme von Mariola, die fragte: »Wer ist da?«
    Er ging zu ihr und sagte: »Ich bin’s! Was tust du denn hier? Wo ist dein Vater? Und Herr Kronek?«
    Mariola lag auf dem Sofa, las ein Buch und antwortete nicht. Und so wie sie da auf diesem Sofa lag, in diesen kniehohen schwarzen Stiefeln und im Minirock, so wie sie da lag und schwieg und mit dem Buch ihr Gesicht verdeckte, wobei sich ihre Brüste unter dem Kaschmirpullover von Pewex wölbten, brachte sie Bartek in Verlegenheit und gleichzeitig in höchste Erregung – sein Windrad in der Hose drehte sich, sein Kopf drehte sich, sein Herz drehte sich. Es war eine angenehme Verlegenheit, eine angenehme Erregung und Drehung. Schtschurek, fragte er sich,

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