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Der Lippenstift meiner Mutter

Der Lippenstift meiner Mutter

Titel: Der Lippenstift meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: weissbooks
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gehen will, dann gehe ich wirklich, dachte Bartek.
    »Ich gehe und komme heute nicht mehr zurück. Das Herz, sein Herz!«, meinte das Schusterkind.
    »Was denn? Wessen Herz?«
    »Monte Cassino kämpft um sein Leben. Sterbenskrank liegt er im violetten Krankenhaus, seine letzte Stunde hat geschlagen, der Biurkowski hobelt schon die Bretter für den Sarg! Und wie er hobelt!«
    »Nein!«, sagte Anton. »Nein! Das ist heute ein rabenschwarzer Tag für dich – erst der Aufsatz, dann der Opa: Das Herz, sein Herz! Und unsere ›Frau Kolibri‹ hat einen Vogel!«
    »Ja, und gestern diese Kreuzigung … Schlimm … Norbert wäre beinahe draufgegangen, wir haben ihn aber gerettet − du hast schon davon gehört: beinahe draufgegangen! Dieser Hosenscheißer Schtschurek! Mach’s gut, Anton.«
    Bartek verließ den Klassenraum, und er empfand eine Genugtuung und Befriedigung, dass jeder gesehen hatte, wie er den Klassenraum mit geschultertem Rucksack und erhobenen Hauptes verlassen hatte, und die Schüler, die das dichterische Wort hassten und seinen Aufsatz schon hinterm Vitrinenglas der schulischen Wandzeitung dämlich hängen sahen, um ihn zu ihrem Vergnügen immer wieder zu lesen und zynisch weiterzuempfehlen, waren ganz still geworden und hatten nicht einmal gegrinst. Er dachte sich: Sie werden mich für meinen Mut bewundern! Klar, er hatte ein bisschen übertrieben, als er Anton erzählte, wie schlimm es um Opa Monte Cassino bestellt wäre, um sein Herz, ja, er hatte sogar mächtig übertrieben, aber sein Freund kannte auch das violette Licht des Johanniter-Krankenhauses und wusste, wozu dieses Licht fähig war. Ein verunreinigtes Skalpell, ein falscher Schnitt, eine Unaufmerksamkeit der Krankenschwester, ein Wodka zu viel im Kopf des Chirurgen – all das war harmlos, im Vergleich dazu, was das violette Licht anrichten konnte. Und Bartek war sich sehr wohl der Tatsache bewusst, dass Opa Monte Cassino ein leichtes Opfer für das violette Licht war, ein Leckerbissen sozusagen.
    Die Sonne hatte das winterliche Schlachtfeld des Lunatals an diesem Schulappellmontag aufgegeben − zugunsten der Nacht und der Wolken. Es schneite. Es war dunkel. Und der Tag hatte noch gar nicht richtig begonnen. Bartek beeilte sich. Er hatte den Eindruck, von den Passanten wie ein Schulschwänzer angeschaut zu werden, und die Passanten und ihre auf Schulschwänzer geschulten Schäferhundenasen und Adlerblicke irrten sich gewaltig, Bartek war kein Schulschwänzer, er hatte einen guten Aufsatz geschrieben, und sein Opa Monte Cassino lag im violetten Sterben. Warum waren die Gedanken der Passanten so unreif und leichtfertig, ihre Schäferhundenasen so misstrauisch? Auf den Beinen der Unreife und der Leichtfertigkeit gingen sie jeden Tag durch die Straßen von Dolina Ró ż , Misstrauen wohnte in ihren Nasen und Blicken. Hey! Mein Opa liegt im Sterben! Hey! Ich bin kein Schulschwänzer! Ich habe einen Aufsatz über die Gedichte der Stalinistin geschrieben, und meine amerikanische Geliebte Meryl Streep hat mir heute Morgen einen sensationellen Chicago-Bulls-Korb gegeben! Wisst ihr!, schrie Bartek im Geiste. Hey!
    Schade, er konnte nicht den gewohnten Nachhauseweg, den er jeden Tag mit Anton zurücklegte, gehen, obwohl die Strecke über den Friedhof und die Karol-Marks-Straße die kürzeste war − in zwanzig Minuten würde er im Johanniter-Krankenhaus sein. Er wollte nämlich vor dem Besuch bei Monte Cassino in der Schusterwerkstatt vorbeischauen und neueste Informationen bezüglich des gesundheitlichen Zustandes seines Opas einholen. Er war sich außerdem nicht sicher, ob ihn die Krankenschwestern zu ihm durchlassen würden, vielleicht lag er auf der Intensivstation, vielleicht segelte er schon auf der Luna im weißen Boot und trank einen Wodka, rauchte eine Zigarette und sang ein Soldatenlied, weil er sich auf die neuen Beine freute, die ihm sowohl im Himmel wie auch in der Hölle sicher niemand verweigern würde.
    Bartek hoffte, dass Mariola an diesem Schulappellmontag Dienst hatte. Sie würde ihm bestimmt helfen.
    Im Eisenbahntunnel kam ihm eine Gestalt entgegen, die ihm bekannt erschien, schnellen Schrittes näherte sie sich ihm, und alles an ihr war dem Schusterkind plötzlich vertraut – schmerzhaft vertraut: die Gangart, die Punker-Frisur, die Turnschuhe ohne Schnürsenkel, die Jeansjacke, der dicke und knielange Wollpullover, im Mund eine Kippe und ein Stirnband auf dem Kopf. Schtschurek! Bartek bekam sofort Angst vor dieser unheimlichen

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